Das Parlament der Bäume - Gedenkort in Berlin Mitte

Text: -wn- (Journalist aus Berlin) / Letzte Aktualisierung: 19.04.2023

Das Parlament der Bäume im Bezirk Mitte
Parlament der Bäume in Mitte (Teilstück) - Foto: © -wn-

Das Parlament der Bäume ist ein Gedenkort für die Todesopfer an der Berliner Mauer, der am 09.11.1990 vom Aktionskünstler Ben Wagin eingerichtet wurde und seit 2017 unter Denkmalschutz steht.

Das Parlament der Bäume - Baum sein wie Ben Wagin es will:

Bäume wachsen, aber sie erörtern nichts! Umso merkwürdiger: 1990 wurden auf einem 400 Quadratmeter großen Areal am westlichen Ende des Schiffbauerdammes im Berliner Regierungsviertel aufgeschulte Stecklinge zu einem "Parlament der Bäume" konstituiert - ohne Präsident, Präsidium und Parteien. Noch nie zuvor hatte man von einer solchen Kammer unter freiem Himmel gehört. Das herangewachsene Arboretum aus Kiefern, Kirschbäumen und Kastanien, aus Platanen, Eichen und Linden wirft seine Schatten wie vorsorglich auf ein Stück authentischer Postenstraße der ehemaligen Berliner Mauer. Denn an ihrer den originalen Mauersegmenten zugewandten Kante sind Platten mit den Namen von zu Tode Gekommenen aneinander gereiht (Foto). Beim näheren Hinschauen die Entdeckung: die beispiellose Baumvertretung nimmt sich nicht nur 258 Mauertoter an und bekräftigt ihren Schutz vor dem Vergessen, zumindest vor einer gleichgültiger werdenden Hinnahme ihres unverdienten Schicksals. Auf den Toten-Tafeln finden sich auch die Namen von NVA-Soldaten, etwa des damals 30jährigen Oberleutnants Georg Fleischer, erschossen am 27. März 1962, ferner von Unbekannten und ebenso namenlos gebliebenen Ertrunkenen. Rotarmisten der 3. Stoßarmee der 1. Belorussischen Front sind aufgeführt. Sie waren bei der Einnahme des Reichstages zwischen dem 30. April und dem 2. Mai 1945 umgekommen.

Parlament der Bäume in Berlin Mitte

Das vom Aktionskünstler Ben (Bernhard) Wagin (geb. 1930) und dem Cottbusser Universitäts-Professor für Stadtplanung und Raumgestaltung Volker Martin initiierte "Parlament der Bäume" fragt nicht nach Intention und Absicht der Todesschüsse; es stellt jedweden Todesschuss als barbarischen Akt in Frage, weil jeder von ihnen ein Zeichen dafür ist, dass gewaltfreies Zusammenleben in der menschlichen Zivilisation noch als eine Illusion gilt. In Wagins grün-steinerner Installation sind vor allem die Gingko-Bäume mit ihren fächerförmigen Blättern die Sinn bildendsten Gewächse. Die seit frühen evolutionären Zeiten überdauernden Weltbäume bringen historischen Atem ins Areal. "Mit dem Ginkgo ist in unserer Zeit ein neues Symbol mit weltweiter Geltung entstanden, ein Symbol der Unbesiegbarkeit, der Hoffnung" vermerkt der Verleger Siegfried Unseld (1924-2002) in seiner geistreichen Schrift "Goethe und Ginkgo". Wagins Parlament votiert mit diesem Hoffnungsträger gegen Gewalt und Krieg, und zwar auf eine Weise, die der Schweizer Publizist Markus Kutter so beschreibt: "Die Sprache dieses Parlaments: In Schatten spendenden Zweigen vom Wind bewegte Blätter."

Ben Wagin, der seit mehr als 50 Jahren für die Aussöhnung einer zur Ruhe kommenden Zivilisation mit der Natur eintritt, stellt den traditionellen Begriff vom Denkmal zur Disposition. Das Parlament, das dem einem Wäldchen gleichenden "Garten der Gerechten unter den Völkern" von Yad Vashem in Jerusalem ähnelt, ist nicht nur der Ort, an dem Menschen-Schicksale mahnend dokumentiert werden. Nichts von Erbauung und Katharsis. Auf einem der 30 Mauersegmente findet sich der nüchterne Ausspruch des früheren deutschen Umweltministers Klaus Töpfer: "Das Fundament eines gemeinsamen europäischen Hauses muss eine intakte Umwelt sein". Die Einsicht weist auf Wagins übergreifende Weltsicht und auf die Eigenart des Platzes hin, ein Ort des von sinnlichen Eindrücken angeregten, überfälligen Nachdenkens über die Welt-Zukunft zu sein. Auf dem Mauerfragment daneben fällt nun gar der Jahrhundertsatz "Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben" ins Auge. Wenn Michail Gorbatschows Berliner Bezeugung vom 6. Oktober 1989 auch zutreffender mit "Gefahren warten nur auf jene, die nicht auf das Leben reagieren" übersetzt werden muss, steht doch außer Frage, dass der mit so viel Weltgewissen ausgestattete Gorbatschow Wagins Gefährte ist. Der Russe aus der Stawropoler Region, dem seine früheren ostdeutschen, in Dogmatik und hilflosem Zorn steckengebliebenen Parteigänger heute selbst die Anrede Herr verweigern, ist angesehener Präsident des Internationalen Grünen Kreuzes (Green Cross). Die Organisation setzt sich weltweit für die Bewältigung der Altlasten des kalten Krieges ein sowie für eine Zivilgesellschaft, die auf sozialen und ökologischen Werten basiert.

Da schlägt Wagins Herz. Wer dem Mann gegenüber steht, den der Autor Martin Klein als jeden duzend und grob, ungehobelt sowie feinsinnig und zärtlich beschreibt, wird von ihm keinen Vortrag über die Weltrettung hören. Vielmehr rechnet er damit, dass sich eine immer größere Mehrheit von der Zeit überdauernden, erdgerechten Mentalität von Bäumen beeindrucken lässt - bis der Einzelne schließlich unter Fortlassung üblicher egozentristischer Lebenslogik sagt: Ja, ich bin ein Baum wie Wagin es will. Dieser unentwegte Mann, der sich Baumpate, Umweltaktivist, Theaterregisseur, Lehrer, Gewissen und Mensch nennt, will "Menschen bewegen, Bewusstsein schaffen, Erinnerungen mit Hoffnung vereinen". Der Baumwuchs ist dabei das ins Spiel gebrachte Element der Zukunft - von der heute allerdings niemand sagen kann, ob sie nächstens zivilisierter oder barbarischer sein wird. Im "Parlament der Bäume" geht es somit um die offenste Frage der gegenwärtigen Welt. Die Sängerin Doris Nefedov (Alexandra, 1942-1969) begeisterte im Jahr ihres frühen Todes mit dem Titel "Mein Freund, der Baum". Wagin winkt ab und verlangt: "Sei selbst der Baum!"

Wie man zum "Parlament der Bäume" kommt:
S-Bahn: S1, S2, S25
Bus: Linie TXL bis Unter den Linden oder Linie 100 bis Reichstag/Bundestag
Vom Reichstag oder dem Brandenburger Tor ist es über die Konrad-Adenauer-Straße ein kurzer Fußweg.

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