Lebusa im Fläming: Wenn Organisten toben und Klänge so wie Berge gehen

Text: -wn- (Journalist aus Berlin) / Letzte Aktualisierung: 18.02.2023

Pöppelmann-Kirche in Lebusa
Die evangelische Pöppelmann-Kirche in Lebusa im Landkreis Elbe-Elster Foto © wn

Ein junger Mensch will seinem Affen Zucker geben. Er heißt Felix Mendelssohn Bartholdy (1809-1847), ist zweiundzwanzig Jahre alt und auf der Rückreise aus Italien nach Deutschland. Wie er sein in der schuckelnden Postkutsche schlaff gewordenes Gemüt aufmuntern will, das schreibt er am 23. August 1831 aus dem schweizerischen Engelberg an seine Eltern, die seine Kunstreise durch Europa finanzierten. Er schildert, was er aus dem angebrochenen Nachmittag noch machen wird: "Ich will nachher ins (Benediktiner) Kloster hinüber (gehen), und mich an der Orgel ... austoben." Am nächsten Tag meldet er Vollzug; er habe "den ganzen Tag nichts gethan, als gezeichnet, und Orgel gespielt". Schließlich aber sitzt er am Sonntag darauf im Gottesdienst in der Klosterkirche als verpflichteter Hilfsorganist am Spieltisch der Orgel und intoniert die Messe, bei der - so seine Worte - "jeder Ton seinen Zopf und seinen Puder" hat. So althergebracht, so gestrig und so ohne emotionale Höhepunkte war offensichtlich der niederdrückende Klangteppich, den er auszubreiten hatte. "Ich spielte treulich den Generalbass", schreibt er. Und am Ende musste er auch noch "auf Begehren des Prälats einen Marsch spielen, so hart es mir auf der Orgel (auch) ankam".

Nicht überliefert ist, an welchem Orgelstück er sich am Vortage "ausgetobt" hatte. Es könnte eines der lebhaften kontrapunktierenden (mehrstimmigen) Orgelstücke Johann Sebastian Bachs (1685-1750) gewesen sein, die seinem Temperament entgegenkamen. Dieses Empfinden mag auch der Grund dafür gewesen sein, dass er als regelrechter Retter des alten Bach in die Musikgeschichten einging. Heute kaum vorstellbar: Nach Bachs Tod war von diesem musikalisch rund 80 Jahre lang nichts mehr zu hören. Dem damals 20jährigen Felix gelang es 1829, in der Berliner Singakademie, dem heutigen Maxim-Gorki-Theater, wesentliche Teile der Matthäus-Passion (BWV 244) wiederaufzuführen und die Zuhörer zu begeistern. Es war ein Ereignis in Berlin, das den weltweiten Siegeszug der Bachschen Musik und ihr Eingehen in die Musikkultur der Welt zur Folge hatte. Für Felix, der damals in der Singakademie die Aufführung vom Hammerklavier aus leitete, kam der Zuspruch des Publikums nicht überraschend. Wusste er doch, dass Bachs Musik nicht nur ernst und gottgefällig, sondern auch fröhlich, belebend und beseelend - kurz: menschennah ist. Der verschollen gewesene Komponist schrieb Musik auch zu manchen weltlichen Themen. Im Werkeverzeichnis findet sich etwa die Jagdkantate "Was mir behagt, ist nur die muntre Jagd" (BWV 208), die berühmte Kaffeekantate "Schweigt stille, plaudert nicht" (BWV 211) oder die Kantate "Lasst uns sorgen, lasst uns wachen" (BWV 213), in der sich der griechische Gott Heros (Herkules) zwischen der Wollust mit "betörendem Schlummergesang" und der Tugend entscheiden muss und - wie es sich für einen Gott gehört - für die letztere votiert.

Ein Geniestreich Johann Sebastian Bachs

Es könnte an diesem 23. August 1831 durchaus möglich gewesen sein, dass sich Felix "zum Austoben" die Noten von Bachs hochemotionaler Orgelphantasie Piéce d'Orgue G-Dur (BWV 572) aus dessen frühen Weimarer Jahren aufs Pult stellte. Das Stück, das als ein Geniestreich Bachs gilt, strotzt voll jugendlicher Frische und befördert Lebensoptimismus, regt zumindest aufgeräumtes Denken an. Es entströmt ihm Wärme, Wucht und löst Wechselbäder der Gefühle aus. Warum sich Felix gerade an diesem Opus mit den Klangelementen vitement (rasch), gravement (ernst) und lentement (feierlich) lustvoll abgearbeitet haben könnte? Man könnte darauf kommen, weil im Sommer 2015 in der Kirche von Lebusa im Niederen Fläming ein ebenso junger und begeisterungshungriger Typ an der Orgel saß und seinen Zuhörern unten im Schiff vermitteln wollte, was das Instrument bei dieser Notenvorlage an Laune, Lust und Leidenschaft verbreiten kann. Der da sitzt, ist der norwegische Kirchenmusiker Espen Melbø (geb. 1982). Er bringt die Orgelphantasie zum Klingen. Der junge Mann aus dem Lande Holbergs, Griegs und Gynts, der zu diesem Zeitpunkt Assistenzorganist in der Naumburger Stadtkirche St. Wenzel ist, lässt nebenbei erkennen, was man sich unter einem "tobenden Organisten" vorzustellen hat. Keinen, der wie ein Pianist "in die Tasten haut", um sein Temperament zur Geltung zu bringen. Das ließe sich im Übrigen keine Orgel gefallen. Der Organist hat die Möglichkeit, durch das Niederdrücken einer oder mehrerer Tasten Orgelwinde freizusetzen, damit diese mit Vorbedacht gewählte oder in Registern vereinte Pfeifen zum Tönen bringen können. Wenn die Finger des Organisten auch nur einfachen Druck machen können, so sind Espen Melbøs Hände wie bei einem rastlosen Strawinsky-Ballett auf der Klaviatur unterwegs. Sie eilen, springen und tanzen, während der Organist keinen Moment das Notenblatt aus den Augen lassen kann. Und nun ist es klar: Es sind die Finger, die toben. Trotzdem ist auch Espen Melbøs Oberkörper in dauernder Bewegung. Er schwankt nach beiden Seiten und nach vorn, scheint sich in die Takte hineinzulegen und die längeren Töne mit Hingabe und Kraft aus dem Instrument zu drücken. Wenn man nun schon ahnt, wie es ist, wenn ein Organist in Stimmung ist, so bleibt die Frage, wie ein menschliches Gehirn die wuseligen Fingerbewegungen des Orgelspielers auf den Manualen in Bruchteilen von Sekunden veranlassen und koordinieren kann. Der junge Norweger weiß, dass gut und flüssig zu spielen in seinem Metier noch lange nicht ausreicht - auch wenn die Orgelfreunde im Kirchenschiff bereits dieses hörbar gemachte Niveau zu Beifall hinreißen mag. Am Spieltisch der Orgel geht es um mehr als um gut und ausgezeichnet. "Wem nicht Geniusglut im Busen flammt, der wird nie ein bedeutender Organist", so hat es der Dichter und Komponist Christian Daniel Schubart (1739-1791) etwas blumig - jedoch wahrheitsgetreu - in seinen "Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst" auf den Punkt gebracht. Der junge Norweger macht den Eindruck, dass er auf dem Weg in diese durchaus nicht überfüllte Königsklasse ist.

Silbermann-Orgel
Blick auf den dreitürmigen Prospekt der Silbermann-Orgel in der Kirche von Lebusa. Von 1994-1997 wurde sie von der Firma Jehmlich restauriert. 94 Prozent des Pfeifenbestandes sind original. Foto © wn

Wer sich während des Konzertes im Kastengestühl der kleinen einschiffigen Lebusaer Saalkirche sitzend umwendet und zu ihm hochschaut oder wer auf Stühlen mit dem Rücken zum Altar sitzt und bequem nach oben blicken kann, hat hinter und über Espen Melbøs Kopf und Hals den dreitürmigen Orgel-Prospekt und seine distelartigen Akanthusranken im Auge. Mit ihren vierzehn Registern in einem Manual und einem Pedal gehört die Orgel zu den kleineren Instrumenten aus der Werkstatt Gottfried Silbermanns (1683-1753), des bedeutendsten mitteldeutschen Orgelbauers der Barockzeit, einer Epoche des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts. Man blickt also auf eine musikhistorische Rarität, auf der nun mit abrupten und schneidenden Pfeifenstößen die Orgelphantasie ihren Anfang nimmt. Die schwirrenden Töne erinnern an Echos, die durch das Kirchenschiff geistern und keine Ruhe finden. Gleich an diesem Einstieg in das Werk hört man einen ersten der Silbermannschen Wohllaute: Den typisch herben und scharfen "Silber-Klang", der dennoch so unaussprechlich lieblich ist. Der Effekt hat handwerkliche Gründe. Vielfach sind die ähnlich wie Blockflöten funktionierenden Lingual-Pfeifen der Silbermann-Orgeln inwendig und auswendig aus poliertem reinem englischem Zinn gefertigt. Die schwingenden Blätter (Zungen) wurden extra hart gehämmert und damit - wie beabsichtigt - wohlklingender gemacht.

Der besondere Klang der Orgel Gottfried Silbermanns

Gottfried Silbermanns sorgfältig gefertigte Orgeln zeichnen sich durch ihre gewaltige Tonstärke aus, dennoch seien sie zu großer Zartheit ihrer Stimmen fähig, bestätigt auch der Orgel- und Klavierbauer Ludwig Mooser (1807-1881), der die Lebens- und Berufswege der beiden Brüder Gottfried und Andreas Silbermann (1678-1734), der in Straßburg arbeitete, beschrieb. In der Fülle der Silbermannschen Orgeltöne entstehen keine Klangballungen, sondern es bleiben die Register und Einzeltöne hörbar und vereinen sich im Ohr und in der Phantasie des Zuhörers. Nach einigen Minuten, in denen das anfängliche wilde Figurenwerk der Orgelphantasie tost, bekommen die Konzertbesucher wiederum den besonderen Klang zu hören. Ein lauter, gebieterischer Generalbass bereitet den tobenden Tönen ein jähes Ende und führt das Stück in übersichtlicheres, freies Gelände. Bei einem ähnlichen (vielleicht gar diesem) Musikerlebnis muss dem Dichter Johannes R. Becher (1891-1958) der Einfall gekommen sein, die Musik Johann Sebastian Bachs mit den Worten zu rühmen: "Die Klänge zögern noch, als ob sie spähen, / sie fühlen vor und müssen wieder weichen. / da fällt ein Ton: ein leises Glockenzeichen. / Die Klänge kommen so, wie Berge gehen." Hingegen griff Heinrich Heine (1797/99-1856) gelegentlich auch mal daneben; zum Beispiel als er in seinen Aphorismen schrieb: "In der Kirche / Wehmütiger Orgelton, die letzten Sterbeseufzer des Christentums". Denn wenn nun auch in die Orgelphantasie bei anfangs feinsinnig ziselierten Tönen eine breit angelegte Feierlichkeit einzieht und nach Minuten ausklingt - so ist doch daran nichts von Endzeittrauer oder Harm.

Das Lebusaer Gotteshaus mit seinem schlanken Turm und der verschieferten Schweifhaube sowie der hohen Spitze wurde nach Plänen des bekannten sächsischen Baumeisters Matthäus Daniel Pöppelmann (1662-1736) erbaut, dessen Hauptwerk der Dresdner Zwinger ist. Bauherr der 1725 bis 1727 errichteten Kirche war Moritz Friedrich v. Milkau (auch Milckau, 1671-1740), einer der führenden Generäle Friedrich August I. von Sachsen (1670-1733), der sich August der Starke nennen ließ. Doch die Lebusaer Kirche neben einer ungewöhnlich hochgewachsenen Linde steht mit ihrem Kleinod auf der Orgelempore keinesfalls im Schatten des berühmten Dresdener Kunstwerkes aus Architektur, Plastik und Malerei. Die Lebusaer Orgel ist eine der 31 erhaltenen, umgebauten oder sensibel rekonstruierten Orgeln aus der Werkstatt Gottfried Silbermanns. 94 Prozent ihres Pfeifenbestandes sind original. Einige wurmstichig gewordene Holzpfeifen mussten 1953 erneuert werden.

Mit einem ernsten Urteil über die Musik Bachs - gespielt auf heutigen oder alten rekonstruierten Orgeln - wartet der evangelische Theologe und Organist Albert Schweitzer (1875-1965) auf. Er meinte, die alten Orgeln aus der Bachzeit verschwänden immer mehr, und so könne die Musik Johann Sebastian Bachs nicht mehr authentisch gespielt werden. In seinem erstmals 1908 in Leipzig erschienenen Buch "Joh. Seb. Bach" beklagt er: "Über dem Streben (in den Konzertsälen) nach Tonstärke haben wir die Tonschönheit und den Tonreichtum, der in dem harmonischen Zusammenklingen ideal intonierter Stimmen begründet ist, vergessen." Es gäbe zu seiner Zeit "gar viele Organisten, die Bach nicht mehr auf einem Werke (einer Orgel), wie er sie bei der Kompositionen seiner Stücke voraussetzte, gehört haben". Mit Bitternis vermerkt er: "Der Tag ist nicht mehr fern, wo die letzte unserer schönen, deutschen Silbermannorgeln ersetzt oder bis zur Unkenntlichkeit renoviert sein wird." Er sieht den Qualitätsabfall der modernen Orgeln in der "Überdruckintonierung unserer Register", und er kommt zu dem Schluss: "Die Orgeln von vor vierzig Jahren (aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts), die noch mit Normaldruck intoniert sind ..., sind bessere Bachorgeln als die modernen. Welche Wonne, Bach z.B. auf den schönen Walckerschen Orgeln, die etwa zwischen 1860 und 1875 gebaut wurden, zu spielen." (Die Orgelbaufirma Walker in Ludwigsburg gehörte zeitweilig zu den größten und renommiertesten ihrer Art weltweit.) Der Pessimismus Albert Schweitzers hat sich nicht bestätigt. Es gibt sie noch, die Orgeln Silbermannscher Bauart mit ihrem unverkennbaren Klang, den man auch in der Kirche von Lebusa hören kann.

Dieser Klang, bei dem geheimnisvoll das Scharfe ins Süße übergeht und tonale Wucht nicht niederschlägt, brachte natürlich auch die Legende vom Meister mit den goldenen bzw. silbernen Händen hervor. Bei einer Orgelweihe in Zittau rühmte man Silbermann in einer langen Ode: "Nun war kein Künstler mehr so groß, / Als Silbermann, der Preiß der Sachsen" Das Brockhaus Conversations-Lexikon von 1809 schreibt: "Außer der Erfindung des Cembal dʼAmour (eines Klaviers, das die Töne länger hält) gebührt ihm noch der größte Ruhm als Orgelbauer: die Sauberkeit, Güte und Dauer seiner Werke, die große Einfachheit bei der inneren Anlage, die volle und prächtige Intonation, so wie die leichte und bequeme Claviatur, geben seinen Werken einen außerordentlichen Werth. Die schönen Orgeln ... werden immer die redendsten Denkmähler dieses großen Künstlers bleiben."

Der Tod ereilte den gegen Ende seines Lebens an schwerer Hypochondrie leidenden, ernst, einsilbig und grob gewordenen Mann am 4. August 1753. Der Siebzigjährige war mit dem Einbau der Orgel in der Dresdener Hofkirche beschäftigt. Ludwig Mooser berichtet über Silbermanns Tod: "Schon war das herrliche Orgelwerk größtenteils eingebaut, als den Meister, mitten in den Orgelpfeifen sitzend, der Schlag rührte. Seine Gehülfen fingen den hinsinkenden Alten in ihren Armen auf; als Leiche trug man ihn vom Orgelchor und aus des Tempels Hallen."

Verkehrshinweis:

Von Berlin nach Lebusa gelangt man über die Bundesstraße B96, die man in Baruth verlässt, um auf der Landstraße L712 weiterzufahren. Hinter Dahmsdorf wechselt man auf die Landstraße L711 Richtung Dahme/Mark. Ab dann ist Lebusa ausgeschildert. Eine weitere Möglichkeit bietet die Autobahn A13. Sie verlässt man an der Abfahrt Duben und fährt Richtung Luckau, Hohenbucko und Lebusa weiter.

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