Sapphos Ort - Der Berliner Frauenfriedhof

Text: -wn- (Journalist aus Berlin) / Letzte Aktualisierung: 19.04.2023

Frauenfriedhof Berlin
Blick auf den ersten deutschen Frauenfriedhof, auf dem sich bisher zwei Gräber befinden (Frühjahr 2016) - Foto © wn

Frauenfriedhof in Prenzlauer Berg

Das Satzglied Attribut, auch Beifügung genannt, ist in vielen Sprachen ein zweckvolles Mittel zum näheren Beschreiben einer Person, Sache oder eines Vorganges. Man wählt es nach Wissen und Temperament und stellt es dem Substantiv voran - etwa wenn wir "Guten Tag" sagen. Die Polen fügen das Attribut oft ans Ende des Hauptwortes. Wenn sie sich grüßen, heißt es "dzien dobry" (sinngemäß: Ich wünsche einen Tag, und zwar einen guten). In der Welt des Sprachlichen gibt es manche Ausnahmen von der Regel. Eine solche Besonderheit liegt vor, wenn ein Adjektiv, das man als Attribut wählte, sich plötzlich einer Benutzung widersetzt. Ein Beispiel: Weil Sie die Insel Lesbos im Ägäischen Meer seit dem letzten Urlaub lieben, bestellen Sie beim einheimischen "Griechen" eine Flasche lesbischen Wein oder lesbische Oliven - und der Kellner könnte grinsen. Denn "lesbisch", so viel wie von der Insel Lesbos stammend - diese Formulierung ist zwar logisch, aber falsch. Das Adjektiv lesbisch ist besetzt. Dabei war der Ausdruck jahrhundertelang einzig eine geografische Ortsangabe. In einem 1781 in Berlin erschienenen Traktat des Schriftstellers August Friedrich Cranz (1737-1801) wird die auf der Insel Lesbos geborene Dichterin Sappho (630 od. 612 v. Chr.- um 570 v. Chr.) als "das Leßbische berühmte Mädchen, die griechische Sappho" genannt. Der Autor hat die bedeutendste Lyrikerin der Antike im Auge, die in Mytilene auf Lesbos lebte. Sappho ist andererseits unbewusst die Verursacherin der veränderten Semantik des Begriffes lesbisch. Und zwar, weil sie, soweit überliefert, lesbisch war oder im Lesbischen ihre Zuflucht nahm. Und so entstand der sprachliche Ausnahmefall, eben weil die Liebe unter Frauen sich des Wortes bemächtigte.

Im April 2014 taucht der Begriff im Zusammenhang mit einem Friedhof auf. Im Kirchhof I der Evangelischen Georgen - Parochialgemeinde in Berlin Prenzlauer Berg wird um diese Zeit ein über 400 Quadratmeter großer, bisher der Verwilderung anheimgegebener Bereich nach dem Kultivieren des Terrains als der erste deutsche Lesben-Friedhof eingeweiht. Auf dem Friedhofsplan am Eingang ist die kleine Abteilung mit dem Namen Sappho verzeichnet. Die ebenfalls nach der antiken Dichterin Sappho benannte Wuppertaler SAPPhO Frauenwohnstiftung übernahm die Trägerinnenschaft für den Friedhofsabschnitt. Sie verhilft Frauen z.B. auch zu preiswertem Wohnraum, die in "sapphischen" Verhältnissen länger oder später oder lebenslang Glück und Erfüllung fanden und inzwischen betagt und einsam wurden. Und nun sorgt sich die Institution sogar für - jüdisch gesprochen - letzte Gute Orte für die Totenruhe dieser Frauen.

Noch sind wenige Grabstellen belegt

Grabstellen auf dem Frauenfriedhof Berlin
Die ersten beiden besetzten Grabstellen (Frühjahr 2016)
Foto © wn

Von den 80 vorhandenen Grabflächen beherbergen (2016) erst wenige Überreste weiblicher Verstorbener; männliche Grabbeleger sind hier nicht vorgesehen. Die neue Anlage für Urnen- und Erdbestattungen fällt im Gesamtfriedhof kaum auf. Alles hat hier den Charakter des Beginnens. Zwei Gräber ohne Stein und Umfassung (Frühjahr 2016) sind die Pioniere des Totenackers. Blickpunkte des Frauenfriedhofes sind eine meterlange s-förmige Bank und nach dem Drehprinzip eines Wirbelsturmes angelegte geschwungene kurze Wege, die zu den Grabflächen führen. Nach dem Willen der Gestalter soll ein jedermann zugänglicher lichter Ort entstehen, der zwar absichtsvoll als etwas Besonderes auffallen, aber nichts ausstrahlen soll, das gewollte Abgrenzung als möglich erscheinen ließe. Hier sollen sich Leben und Tod von Frauen verbinden, eigene Formen von Friedhofskultur entwickelt und Gemeinschaft von Lesben über den Tod hinaus gelebt werden können. In der Nähe sieht man steinerne Damen, die mit traurigen Blicken auf Urnen vor sich sehen. Gleich gegenüber steht ein ungepflegter Grabbau in dessen Innenraum eine Tafel mit dem Namen des Begründers der Berliner Blindenanstalt, des Pädagogen, Geographen und Germanisten Johann August Zeune (1778-1853) hängt. Die alten Grabmäler ringsum wirken mit ihren ruhigen stillen Fluida in den neuen Friedhofsabschnitt hinein und geben dem Neuland etwas von ihrem Charme des Verblichenen ab.
Die antike Dichterin wird aber offenbar nicht nur wegen ihrer sexuellen Ausprägung ins Boot geholt. Man muss ihr wie der Stiftung einen fürsorglichen Sinn nachsagen. Ruhm erlangte sie in ihrer Lebenszeit, nachdem sie eine Schule für weiblichen Chorgesang betrieb. Junge Mädchen wurden dort auf ein eheliches Zusammenleben mit Männern vorbereitet. Sie erlernten das Saitenspiel, den Gesang und eine zeitgemäße Lebensführung. Heute würde man von einer Höheren Töchter-Schule sprechen. Auf ein Eigenheit der Einrichtung weisen die überkommenen Textfragmente hin: Die Mädchen seien ihrer Meisterin in gegenseitigem Einvernehmen "erotisch verbunden" gewesen. Das war damals kaum skandalös. Keinesfalls aber darf man sich die Sappho als Männerfeindin vorstellen. Einige ihrer schönsten Gedichte sind Männern gewidmet. Das Hohelied der Ehe ist Inhalt zahlreicher ihrer Gesänge.

Es kommt also der 6. April 2014. Die Einweihung des Friedhofes an diesem Tag verläuft nach Aussagen von Teilnehmerinnen in feministisch-selbstbewusster Stimmung. Als eine Rednerin zur Begrüßung der "Gästinnen und Gäste" das Motto der Veranstaltung ausbringt und sodann eine Eloge auf das weibliche Geschlechtsorgan mit dem Titel "Viva la vulva" skandiert, wären auch Männerphantasien davon nicht unberührt geblieben. Ob die auf das Bestattungswesen ausgeweitete Gemeinschaftskultur frauenliebender Frauen in den kommenden Jahren zum bestatterischen Normalfall wird und dann den Nimbus eines Kuriosums verliert - das muss sich zeigen. Die evangelisch-lutherische Theologin Margot Käßmann (geb.1958) hält das Projekt zumindest für diskutierbar. Sie meint, über den Frauenfriedhof ließe sich "trefflich streiten", und sie fragt vorsichtig: "Ist das selbst gewählte Ausgrenzung oder (wie die Betreiber sagen) ein Statement gegen die weitgehende Unsichtbarkeit von Lesben in Gesellschaft, Politik und Medien?" Die Antwort ist gegeben; Letzteres kommt der Wahrheit nahe. Die Stiftung will mit und in der kleinen Anlage Lesben als normale Glieder der Gesellschaft erscheinen lassen. Mit einem Anspruch auf exklusive Totenruhe hat das nichts zu tun. Das Begräbnisfeld ist ein schöner Mosaikstein in der Berliner Friedhofslandschaft, der ins Denken der Gesellschaft hineinwirken soll. Zwar ist es lange her, dass der scharfzüngige österreichische Schriftsteller Karl Kraus (1874-1936) in einer Aufsatzsammlung 1908 feststellte: "... der Psychiaterwahnwitz hat ... Sappho mit dem Stigma der "Perversität" belegt". Es gibt aber keinen Grund anzunehmen, dass in der öffentlichen Meinung heute das Lesbische schon als normal betrachtet wird.

Friedrich Hölderlin sieht im Lesbischen verwirklichtes Freiheitsideal

Friedrich Hölderlin (1770-1843), der deutsche Dichter, der dem Menschen und der Welt in Freude wie in Bitternis so nahe kam, sieht - neben anderen menschlichen Neigungen - in der lesbischen Liebe vorausahnend ein menschliches Freiheitsideal erfüllt. Er hat einen "geschlechtsübergreifenden" Begriff von menschlicher Liebe. (Ihn verbindet bekanntlich eine tragische Liebe mit der Frankfurter Bankierstochter Susette Gontard (1769-1802), die als vielbeschriebene Diotima durch seine Texte geht.) Seiner "Hymne an die Menschheit" stellt Friedrich Hölderlin absichtsvoll ein Zitat des Aufklärers Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) voran: "Die Grenzen des Möglichen in moralischen Dingen sind weniger eng als wir denken." Im Gedicht heißt es:

Grabmal in der Nähe des Frauenfriedhof Berlin
Grabmal mit trauernder Frau in der Nähe des Frauenfriedhofes - Foto © wn
"In Melodie den Geist zu wiegen,
Ertönet nun der Saite Zauber nur;
Der Tugend winkt zu gleichen Meisterzügen
Die Grazie der göttlichen Natur;
In Fülle schweben lesbische Gebilde,
Begeisterung, vom Segensborne dir!
Und in der Schönheit weitem Lustgefilde
Verhöhnt das Leben knechtische Begier."


Im Verkehr zwischen den Geschlechtern und innerhalb der Geschlechter sieht der hochsensible Dichter den Eros als göttliches Prinzip verwirklicht.

Die Sappho hat dieses Prinzip eindrucksvoll bezeugt. Sie wird als aufgeweckt und feurig geschildert; ihr Herz habe "weich und empfindsam gewallt". Sie sei jung und blühend und anfangs mit einem Mann verheiratet gewesen. Bald aber sei sie Witwe geworden, heißt es im Cranz-Traktat. Nach einer Münze mit ihrem Bild zu urteilen, "war sie nicht hässlich, ob wohl eben nicht schön, und also eines mittelmäßigen Reizes - (sie) hatt' ein länglichrundes Gesicht, mit spizzer Nase und gebogenem Kinn. Ihre Leibesstatur war Mittelstatur." Und weiter: "Man erzählt auch, dass Sappho´s verliebte Leidenschaft sich auf ihr eigenes Geschlecht erstrekkt habe." Das Traktat schließt deshalb mit den Worten: "Ich möchte meine Dichterin durchaus nicht von diesem Vorwurf (des Lesbischen) freisprechen."

Ein Textfragment aus dem Schaffen der Sappho mit einer abschlägigen Antwort auf das Liebeswerben des griechischen Lyrikers Alkäus (um 600 V.Chr.) aus Mytilene lässt den Schluss zu, dass es ihr zumindest zu diesem Zeitpunkt nicht mehr um einen Mann zu tun war. Alkäus bewarb sich mit den Worten: "Du heilige, veilchenbekränzte, sanft lächelnde Sappho, mich hindert die Scheu, zu dir ein offenes Wort zu sprechen..." Zurück schreibt sie kategorisch:

"Wenn ich denke: unter euch (Männern) verginge
dürftig unser süßes Mädchentum,
welches wir, ich Wissende und jene
mit mir Wissenden, vom Gott bewacht,
trugen unberührt, dass Mytilene
wie ein Apfelgarten in der Nacht
duftete vom Wachsen unsrer Brüste..."


Und auch in ihrem fortgeschrittenen Alter bemühen sich Männer um sie. Überliefert ist ihre eindeutige Antwort an einen späten Bewerber: "Bist du uns (Frauen) Freund, so wähle dir ein jüngeres Ehebett; denn ich kann es nicht tragen, dir beizuwohnen, da ich zu alt bin." So sehr sie mit ihren Absagen die Bewerber unglücklich machte, so sehr wird sie es später selbst auch. Schon als alternde Frau verliebte sie sich in Phaon, einen gut aussehenden Fährmann, dessen Kahn zwischen Lesbos und dem Festland verkehrte. Aber es sei ihr nicht gelungen, ihn auf Dauer zu fesseln. Nach dem Ende dieser Beziehung habe sie sich der Legende nach von einem Felsen gestürzt. Unbekannt, in welcher Nekropole sich ein Grab mit ihrem Namen befindet - wenn überhaupt in einer solchen Totenstadt.

Aus Dante Alighieris (1265-1321) "Göttlicher Komödie" wissen wir, dass ihre Seele nicht mit dem Hades in Verbindung gebracht wird. Im "achtzehnten Gesang" des Abschnitts "Die Hölle", in dem geschildert wird, dass dort "Schmeichler und Dirnen im Kote waten", macht der in die Komödie eingefügte Führer Vergil (70 v.Chr.-19 v.Chr.) seinen Begleiter Dante auf die griechische Hetäre Thais (4. Jahrhundert v. Chr.) aufmerksam, "die dort voll Schmutz und mit kahlem Kopfe / Sich eifrig kratzt mit ihren kotgen Nägeln". Dass nun der Name Sapphos auch im Abschnitt "Das Paradies" unerwähnt bleibt, soll nichts bedeuten. Ihre Wertschätzung erfährt die bedeutende Frau, indem ihr Name nun schon seit Jahrtausenden den schönen Klang behält.

Einer, der das überraschenderweise ganz anders sah und das Lesbische ablehnte, ist der Begründer der deutschen Sozialdemokratie Ferdinand August Bebel (1840-1913). Sein Buch "Die Frau und der Sozialismus" ist ein Bestseller, der zu seinen Lebzeiten in 52 Auflagen erscheint und bis 1913 in 20 Sprachen übersetzt wird. Dieser Mann, dessen Namen seit 1947 einer der schönsten Plätze Berlins trägt, fordert mit großem Echo die berufliche und politische Gleichberechtigung der Frau. Der "Arbeiterkaiser", wie er auch anerkennend genannt wird, schreibt in seinem Buch aber auch: "Huldigte (in der Antike) die Männerwelt Griechenlands der Knabenliebe, so verfiel die Frau ... der Liebe zu Angehörigen des eigenen Geschlechts. Es war dieses besonders bei den Bewohnerinnen der Insel Lesbos der Fall, weshalb diese Verirrung die lesbische Liebe genannt wurde und noch genannt wird, denn sie ist nicht ausgestorben und besteht unter uns fort."

Zwischen dieser Fehlinterpretation und dem lustvollen Fest-, Gedenk- und Demonstrationstag der Lesben, Schwulen, Bisexuellen und anderer vom "Normalen Abweichenden", dem alljährlichen Christopher Street Day (CSD), liegt ein schon begangener steiniger Weg des Ringens um Anerkennung. Der ganze heitere Ernst, der von diesem bunten Aufzug ausgeht, stützt die Annahme, dass auch die sapphische Liebe lebt. Zur allgemeinen Überraschung zeigt es sich nun, dass sogar ein totenstiller Ort, an dem es nicht lebensfroh und locker zugeht, auf die Gesellschaft aufklärerisch wirken kann. Man hätte es nicht gedacht.

Verkehrshinweis:
Der Eingang zum Kirchhof I der Evangelischen Georgen - Parochialgemeinde in Berlin Prenzlauer Berg befindet sich in Greifswalder Str. 234/229. Vom Alexanderplatz ist er ca. 850 Meter entfernt.

Öffnungszeiten des Berliner Frauenfriedhof in Prenzlauer Berg:

Januar und Dezember: täglich 8:00 Uhr - 16:00 Uhr
Februar und November: täglich 8:00 Uhr - 17:00 Uhr
März und Oktober: täglich 8:00 Uhr - 18:00 Uhr
April und September: täglich 8:00 Uhr - 19:00 Uhr
Mai bis August: täglich 8:00 Uhr - 20:00 Uhr

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