Teutoburger Platz in Berlin

Text: -wn- (Journalist aus Berlin) / Letzte Aktualisierung: 19.04.2023

Teutoburger Platz Berlin
Querweg auf dem Teutoburger Platz - Foto © -wn-

Der Teutoburger Platz - Das BZ-Bärchen bei Bürgern aus dem Bilderbuch

Man behaupte nicht, im ostdeutschen Staatssozialismus sei stets alles beim Alten geblieben. Zudem stimmt es nicht, dass immer nur Menschen observiert wurden. Auch Begriffe waren von operativen Vorgängen nicht ausgenommen; wenn nötig, durchliefen sie Prüfungen, nach denen eine mediale Benutzungserlaubnis gegeben oder verwehrt wurde. Es verschwanden Wörter und Wortgebräuche, auch wenn sie weit davon entfernt waren, unanständige Verbalinjurien oder fäkalsprachliche Synonyme für Stuhlgang und Geschlechtsverkehr zu sein. Meist wurde Schädlichkeit diagnostiziert, wenn der Wortsinn ins Politische ging. Wie etwa im Volkslied von Hoffmann von Fallersleben (1798-1874) "Die Gedanken sind frei". Das Skandalon wurde selten gedruckt. 1981 erschien es in den Textbüchern der Leipziger Edition Peters. Das totale Aus kam für die Nationalhymne von Johannes R. Becher (1891-1958) und Hans Eisler (1898-1962). Wegen der Formulierung "Deutschland einig Vaterland" wurde sie ab 1972 ohne Text intoniert. Mit dem Textverbot gab die Honecker-Administration ungewollt zu erkennen, dass das Land schon zuvor nicht mehr "der Zukunft zugewandt" war.

Zu einer der ungewöhnlichsten Korrekturen der Sprachcleaner kommt es 1977 im Bereich der Fleisch- und Wurstwaren-Industrie. Ins Visier gerät eine handelsübliche Wurstsorte, die raffiniert gewürzte und pikant geräucherte Braunschweiger Streichwurst. Ihr Name wird über Nacht als politisch unkorrekt eingestuft. Grund: Die DDR lehnt neuerdings die Wiedererlangung einer nationalen Einheit mit der BRD (alt) ab. Deshalb hat der Name der niedersächsischen Stadt an der Oker auf ostdeutschen Wurstpreisschildern nichts mehr zu suchen. Es verschwindet die Warenbezeichnung "Braunschweiger"; der Ersatz heißt Teewurst. Der Name ist naheliegend. Der Entwickler der Wurstsorte, der geschäftsgewandte Fleischwarenfabrikant Georg Wilhelm Heinrich Schmidthals (1837-1927) aus dem westpommerschen Rügenwalde (heute das polnische Darlowo), soll sich diese Wurst beim Nachmittagstee aufs Brot geschmiert haben - ein Werbegag mit Langzeitwirkung.

Häuser in der Zionskirchstraße
Sanierte Hausfassaden in der angrenzenden Zionskirchstraße - Foto © -wn-
Obwohl sich die Sprachrichter als Atheisten verstanden, waren sie doch von einem religiös eingefärbten Denken erfasst. Wenn sie auch den Evangelisten Johannes, der um 70 n.Chr. predigte, nicht kannten, hätten sie ihm doch in einem Punkt recht gegeben. Johannes expliziert: "Im Anfang war das Wort ..." (1.Joh.1). Diese Überzeugung hört sich sehr nach Karl Heinrich Marx (1818-1883) an, der in seiner Schrift "Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie" beschreibt wie öffentlich benutzte Wörter und Wendungen "die Massen ergreifen" können. Und Wörter konnten die Massen aber auch auf unerwünschte Gedanken bringen - eine staatssozialistische Horrorvision. Die strenge Beobachtung des Sprachgeschehens, das nicht aus dem Ruder laufen soll, schildert der gleichnishafte Roman "1984" des englischen Schriftstellers George Orwell (1903-1950). "Eine herrliche Sache dieses Ausmerzen von Worten", sagt dort ein diensteifriger Bediensteter des Wahrheitsministeriums. Die Bedeutung jedes Begriffes werde streng festgelegt. Negative, verneinende sowie andere die große Idee nicht hinreichend stützende Wörter würden kategorisch aus dem Sprachgebrauch entfernt - und zwar so als hätte sie es nie gegeben.

Das Schicksal der Braunschweiger Wurst schien in den 70er Jahren auch dem beliebten Kasseler Braten vorbestimmt zu sein. Hatte man doch den Entwicklungsort des gepökelten und leicht geräucherten Schweinefleischs zunächst in der nordhessischen Stadt Kassel vermutet. Doch die Sprachcleaner fanden heraus, dass der Braten eine Kreation des Berliner Schlachtermeisters Johann Cassel war, der um 1870 im Laden in der Potsdamer Straße 15 "Geräucherten Schweinerücken a la Berlinoise" anbot. Bald hieß der populäre Braten "Kasseler". (Johann Cassel erscheint in der Literatur gelegentlich auch als Fleischermeister aus Potsdam.)

Der Teutoburger Platz wird nicht umbenannt

Für eine Überraschung sorgte auch das Fortgelten des Namens des 8250 Quadratmeter großen Teutoburger Platzes im Berliner Prenzlauer Berg. Am 19. Dezember 1875 hatte das Königliche Polizei-Präsidium mitgeteilt, Kaiser Wilhelm I. (1797-1888) habe "Allergnädigst geruht, ... dem Platz den Namen "Teutoburger Platz" beizulegen". Am selben Tag erhielten auch die Veteranenstraße und der Arcona-Platz ihre Namen. Um 1880 wird der Teutoburger Platz mit Bäumen bepflanzt. Heute findet man dort vor allem Robinien, Birken und Ebereschen. Im Jahr 1910 wird ein Spielplatz eingerichtet. Das Problem für die DDR ist seinerzeit: Der Teutoburger Wald liegt im Niedersächsischen Bergland. Der Grund dafür, dass der Platzname dennoch unangetastet bleibt, mag darin bestehen, dass dieser Ort mit der legendären Varusschlacht im Jahre 9 n.Chr. in Verbindung steht. In dieser Auseinandersetzung besiegten die Soldaten des Cherusker-Fürsten Arminius (17 v.Chr. - 21 n. Chr.) drei eingefallene Römische Legionen, die unter dem Kommando des Oberbefehlshabers Publius Quinctilius (46 v.Chr.-9 n.Chr.) standen. Der Geschichtsschreiber Cornelius Tacitus (55-115 n. Chr.) bezeichnete Arminius später anerkennend als "Befreier Germaniens". Da fühlte man in der DDR wohl einen Hauch von "Vorwärts immer - rückwärts nimmer!" aus der Geschichte heran wehen. Während man sich Arminius nahe fühlt, wird übersehen, dass die eigene "führende Partei" dem diktatorischen Prinzipat des zu dieser Zeit herrschenden Römischen Absolutisten Augustus (63 v.Chr.-14 n. Chr.) auffallend ähnlich ist. Im gleichen Zuge wie Augustus für die Plebs (das niedere Volk) das Prinzip "Brot und Spiele" (panem et circenses) erfindet, nimmt er - klassenmäßig gesprochen - den Volksmassen am Tiber zahlreiche politische Rechte.

Am 15. September 1961 - gerade einmal 35 Tage nach dem Schockerlebnis des "13. August" - berichtet die Berliner Zeitung von einer frohgemuten "Brot und Spiele"-Party im Vorfeld der Gemeinde-, Kreis- und Bezirksratswahlen, die SED-Chef Walter Ulbricht (1893-1973) auf den 17. September gelegt hat. Das Bärchen, eine belehrende und vorauseilende Gehorsamkeit versprühende Rubrik der Zeitung, berichtet wie Anwohner des Teutoburger Platzes das bevorstehende Ereignis vorbereiten. Aus dem euphorischen Report ist zu schließen, dass auf dem Platz nur sozialistische Bilderbuch-Bürger unterwegs waren. Bereits als Bärchen (es ist der Journalist Hans Ernst) "am Donnerstag auf dem Weg in die Redaktion war, begegneten ihm zwei Männer, die große Ballen grüner Girlanden trugen. Kein ungewöhnlicher Anblick in diesen Tagen, da in unserer Stadt emsig die letzten Stiche am Festkleid zum 17. September genäht werden." Sodann wird beschrieben, von welcher angeblichen Lust die Platzanwohner getrieben waren. Die einen rahmen in nordkoreanischer Manier die Porträts der Spitzenkandidaten sorgfältig ein. Andere bemalen Tafeln mit Losungen aus den 50er Jahren: "Schneller besser billiger bauen!" und "Sozialistisch lernen, arbeiten und leben!" Angehörige von Sprechchor- und Kulturgruppen halten Generalproben ab: "Sie werden nämlich am Sonntag die Berliner mit spritzigen Agitationssprogrammen vor den Wahllokalen empfangen." Und Bärchen kann gar nicht mehr an sich halten: "Wohin man auch sieht, überall werden die letzten Handgriffe getan, mit kritischem Auge wird noch einmal das geschmückte Haus betrachtet - für alle Berliner ist sozusagen Generalprobe, denn die wenigen Stunden bis zu dem großen Tag wollen genutzt sein, um das Festkleid zu vollenden." Als schließlich alles vorüber ist, legt der Große Bruder WU das Wahlergebnis auf "99,96 Prozent für die Kandidaten der Nationalen Front" fest. Auf den Mauerbau anspielend titelt die "Berliner Zeitung" am Tag danach: "Auch der zweite Schlag hat gut gesessen". Den Prenzlauer Berg straft WU mit nur 95,0 Prozent ab; es ist das "schlechteste Ergebnis" in Berlin.

Der Mythos des Prenzlauer Bergs

Auf dem Platz mit dem über 140 Jahre alten Namen (2016) wird sich in den 80er Jahren etwas ereignen, das - wie mancher sagt - einem Mythos gleichkommt. Es ist die nicht überstürzte, aber dennoch revolutionäre Umwidmung des deutschen Begriffes Freiheit. Man hat es mit einem historischen Akt zu tun. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) sieht die Freiheit noch als ein "Attribut des absoluten Geistes" an, womit im praktischen Leben schon damals wenig anzufangen ist. Da kommt die Freiheits-Definition des Philosophen Friedrich Engels (1820-1895) schon ganz anders daher. Im "Anti-Dühring" lässt er die Katze aus dem Sack: Freiheit sei die "Einsicht in die Notwendigkeit". Im Laufe der nächsten Jahrzehnte vermehrt sich am Teutoburger wie auch an anderen Berliner Plätzen die Zahl von Menschen, die die Frage stellen, wer eigentlich mit welchem Recht die Notwendigkeit benennt. Wie der Stern von Bethlehem leuchtete schließlich ein neues Verständnis von Freiheit auf. Was war geschehen? Aus einer Chronik der 80er Jahre: "In die heruntergekommenen Altbauten rund um den Teutoburger Platz zogen vor der Wende viele junge Menschen, Künstler und Systemkritiker. Es entstand eine Subkultur, die den Mythos vom Prenzlauer Berg begründete. In den Wohnungen der Künstler fanden Lesungen und Ausstellungen statt. In der Fehrbelliner Straße (nebenan) wohnten die Gründer der Umweltbibliothek der Zionsgemeinde und der Untergrundzeitschrift "grenzfall". Im Atelier der Künstlerin Bärbel Bohley (1945-2010) am Teutoburger Platz traf sich die Initiative Frieden und Menschenrechte, und hier gründete sich die größte Bürgerbewegung der DDR, das Neue Forum. Im Hof der Künstlerin wurde am 9. November 1989 die Legalisierung des "Neuen Forums" verkündet." Der Publizist Stefan Berg (geb. 1964) erinnerte sich ebenfalls an die entscheidenden Tage: "Am Teutoburger Platz ... steht eine unscheinbare, mit Texten und Fotos ausgestattete Säule. An einer Seite befinden sich ein Lautsprecher und ein Knopf. Wer den drückt, kann die Stimme von Bärbel Bohley hören, eine helle, selbstbewusste Frauenstimme... An einem Abend im Herbst 1989 habe ich ungefähr an der Stelle gestanden, an der nun die Säule steht. Bohley und ihre Freunde hatten gerade dieses Neue Forum gegründet, keine Partei, sondern eine Bürgerbewegung, offen für alle. In der Tasche hatte ich eine Unterschriftenliste, die ich dort abgeben wollte. Aber vor Bohleys Wohnung standen auffällige Herren mit Kameras - das West-Fernsehen - und noch mehr unauffällige Herren mit Handgelenktaschen - die Stasi. Die Kombination war mir unheimlich. Ich drehte ab."

Haus am Teutoburger Platz
Ältestes Haus in der Fehrbelliner Straße am Teutoburger Platz. Es wurde 1865 gebaut. - Foto © -wn-
Als ein begleitender Vorgang kommt ein Begriff aus dem staatssozialistischen Alltag in Bewegung: der Subbotnik. Er hat einen doppelten Wortsinn. In der DDR kennt man ihn als Bezeichnung eines (nicht immer) freiwilligen Arbeitseinsatzes, meist am Sonnabend. (Die andere Bedeutung: Ein Mensch, der sich als Subbotnik versteht, ist jemand, der sich an das jüdische Sabbatgebot hält.) Der Ausdruck verschwindet mit der Wende - die Intention zum Glück nicht. Anwohner des Platzes treffen sich heute zur Pflege der Grünflächen und des 2000 Quadratmeter großen Spielplatzes. "Eine gute Sache, ja!" würde Walter Ulbricht sagen, hätte er erfahren, dass sich menschliche Initiative weitaus besser ohne Parteibeschluss entfaltet. "Leute am Teute" heißt der Anwohnerverein am Teutoburger Platz, der für ein beeindruckend breit gefächertes kulturelles Leben sorgt. Die Palette reicht von Festen in den umliegenden Straßen, Konfirmationen am ehemaligen Schutzhaus, dem Platzhaus, Filmaufführungen im BAIZ-Club um die Ecke und Veranstaltungen zur Arbeit mit den historisch wichtigen Stolpersteinen. Auch wenn die staatssozialistischen Sprachschinder keinen Zugriff mehr haben, wird die deutsche Sprache am Teutoburger Platz erneut missbräuchlich verwendet. Durch die Bäume des Platzes leuchten die schönen hellen Fassaden der modernisierten Häuser in den umliegenden Straßen (Fehrbelliner, Templiner, Zionskirch- und Christinenstraße). Viele junge Familien zogen hier ein und fühlen sich wohl. Der erfreulichen Tatsache steht ein bestürzendes Rechenergebnis gegenüber: Nur 18 Prozent der früher ansässigen Bewohner leben noch im Kiez. Schuld sind die exorbitant gestiegenen Mieten. Der Linke-Politiker Wolfram Kempe (geb. 1960) erklärt dazu: "Wenn man Erfolg von Stadterneuerung nur an den Fassaden mißt, dann ist es natürlich hübsch geworden ... Wenn danach weniger als 20 Prozent der alten Bevölkerung noch da sind, dann ist das für mich keine erfolgreiche Sanierung." Der bedenkliche Umstand wird von den Behörden gern sprachlich verbrämt, indem man den verschleiernden Begriff Bevölkerungsaustausch ins Spiel bringt. In Wahrheit handelt es sich um das Verdrängen von Menschen unter ökonomischem Zwang. Nicht überall in Berlin führte die Sanierung von Häusern zu solchen sozialen Problemen. Dazu lese man auf dieser Webseite den Beitrag
"Der Kreuzberger Chamissoplatz: Deutscher Franzose und l'Allemand francais".

Wie man zum Teutoburger Platz kommt:
U2 (Senefelder Platz)
Bus 143,
Tram 1, 7, 8, 52, 53

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