Text: -wn- (Journalist aus Berlin) / Letzte Aktualisierung: 19.04.2023
Beiseite gestellte Henne-Figuren auf dem Grab von Helga Hahnemann - Foto: -wn-
Unser Autor war erneut am Grab der "Süßen. Er konstruiert in diesem Artikel u.a. eine mutmaßliche Vernehmung der Bürgerin Hahnemann, Helga:
Erneut am Grab der "Süßen" / Vernehmung der Bürgerin Hahnemann, H.
Mal nachsehen, was die "Süße" macht. Deshalb ein neuerlicher Besuch auf dem Berliner Friedhof Pankow VII.
Die Entertainerin und Kabarettistin Helga Hahnemann (1937-1991) ist hier bestattet. Stille herrscht im Reich von Amsel, Elster und Gartenrotschwanz. Aber an diesem entlegenen Ort der Toten bietet sich überraschend auch das Bild eines Siechens, das noch nicht am Ende ist, und eines Sterbens, das noch bevorsteht. Denn - hört man genau hin - ist es, als gingen von Bäumen Klagen aus. Besonders grämlich rauscht eine Eberesche im Umfeld des Grabes. Ab dem Erdboden ist ihr Stamm einen ganzen Meter hoch vom Eschenkrebs befallen. Nachgerade wundgefressen ist das Holz, und der hässliche Fraß setzt sich hochwärts weiter fort. Daneben, an einer dorrenden Thuja klettert Gemeiner Efeu hoch - so als ob nur er den Baum noch lotrecht hält. Die trostlose Thuja mit dem rankenden Grün erinnert an manche der älteren Damen, die beim Schwof im Zenner-Garten an der Spree letztverbliebene Reize zeigen. Gegenüber dem Grab greift ein Eschen-Ahorn mit dürren Ästen hilfesuchend in die Luft. Und das Grab, ein Erbbegräbnis mit seinem schlichten, rissig gewordenen Stein macht den Eindruck, als sei hier Schluss mit Lustig, als sei großes Aufräumen angesagt. In der Ecke der kleinen, rechteckigen Grabfläche, neben einer leeren Erdspießvase und einem erloschenen Ewigen Grablicht finden sich fünf eng an eng beiseite gestellte Hennen,
unterschiedlich groß und eingeschüchtert wirkend, ausgeblichen auch, oft sind die Farben sogar abgeplatzt.
Mit solchen demonstrativen Szenen könnte man die Käfighaltung von Geflügel kritisieren. Es fehlt überdies die auf Berliner Friedhöfen übliche Ehrengrab-Keramik, die man hier erwarten kann, weil das "kleine Engelein" bekanntlich auf der Ehrengräber-Liste steht.
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Porträt Helga Hahnemanns am Parkwärterhaus am Eingang des Parkplatzes Johannisstraße hinter dem Friedrichstadtpalast - Foto: -wn-
In diesem Portal berichten wir im Beitrag "Am Grab der "Süßen" - Big Helga: Clownesker Stolz vor Bonzenthron" von einem ersten Besuch am Grab. Der Autor nahm die Stippvisite zum Anlass, danach an die Verstorbene zu erinnern. Manchen mag das Verfahren als journalistisch weit hergeholt erscheinen, weil sie meinen, an die Hahnemann muss man nicht extra erinnern; so wie man etwa an die geistesverwandte Diseuse Claire Waldoff (1884-1957; "Wer schmeißt denn da mit Lehm") nicht erinnern muss oder den Pinselheinrich genannten Maler und Fotograf Heinrich Zille (1858-1929) nicht vor dem Vergessen zu schützen braucht.
Sie helfen sich, so denkt man, selbst und bleiben den vielen Menschen gegenwärtig, die sie bis auf den Tag aus tausend guten Gründen lieben und verstehn. "Gedanken an Tote sind Wiederbelebungsversuche", vermerkt der Schriftsteller Elias Canetti (1905-1994) 1956 im Tagebuch. Solche Versuche finden im Fall der Helga Hahnemann so häufig statt, so dass sie auch deshalb immer noch wie eine Lebende gesehen wird und ihr körperlicher Tod eher eine Tatsache am Rande bleibt. Deshalb war es wenig überraschend, dass zahlreiche Leser den Text über den Erstbesuch lasen und nicht weiterklickten - weil sie sich, nimmt der Autor zumindest an, bei Gelegenheit der angebotenen Lektüre gern an die charismatische Frau erinnern. Vermutlich handelt es sich bei ihnen um diejenigen für Witz und Komik Empfänglichen, die man einer Schicht mit gehobener Herzensbildung zurechnen kann - nämlich denen, die nicht über jeden Aberwitz von "Schnellbespaßern aus der zweiten oder dritten Reihe" (Der Spiegel) lachen können, sondern das überraschend komische Element erwarten, das geistiger Mitarbeit bedarf, woraus erst der zu Lachen und Schmunzeln führende Humor-Genuss entsteht. Die medial gespeicherte Hinterlassenschaft der Hahnemann zeigt: Dem "richtigen Leben", wenn auch "im Falschen" (Theodor W. Adorno, 1903-1969), waren Witz und Lebenslust nicht gänzlich fremd, auch wenn die Lachanlässe nicht zu politisch werden durften. Big Helga zelebrierte jenen Humor, den der Kulturhistoriker Karl Friedrich Flögel (1729-1788) in seiner postum erschienenen "Geschichte der Hofnarren" beschreibt.
Neigung und Fähigkeit zum Lachen, meint er, leite sich aus dem Stolz des selbstbewussten Menschen her und aus der "Vergleichung mit der Unvollkommenheit anderer Leute", aber auch der eigenen Laster und Mängel, denn der Mensch lache "auch über seine eignen vergangenen Thorheiten".
Im erwähnten Beitrag wird von einer verspäteten Rückkehr Helga Hahnemanns von einem RIAS-Konzert am 4. November 1988 in der Westberliner Deutschlandhalle berichtet. Wir schrieben: "Am (bereits) geschlossenen Grenzübergang angekommen habe sie gerufen: "He, ihr Eierköppe, macht mal auf hier, icke will nach Hause." Nach Darstellung ihrer Freundin, der Autorin und Regisseurin Angela Gentzmer (geb. 1929) hätten sie die Grenzer nach kurzem Zögern rein gelassen." Reizvoll sich auszudenken, zu welchem Wortwechsel es mit dem Diensthabenden Offizier der Grenzübergangsstelle gekommen sein könnte.
Vielleicht so:
Am Grenzübergang: Die Klärung eines Sachverhalts - Wer gab die Codenamen "Süße" und "Engelein"?
Die Gedenkbüste Helga Hahnemanns aus der Werkstatt des Berliner Bildhauers Karsten Klingbeil (geb. 1925). Die Büste steht im Eingangsbereich des Friedrichstadtpalastes. - Foto: -wn-
Bürgerin Hahnemann, stellen Sie den Motor ab und kommen Sie zur Klärung eines Sachverhaltes mit in den Untersuchungsraum.
Ja, Mann, wat soll ich in die Räumlichkeit, bei mir muss doch nie nischt untersucht wern. Icke bin ooch müde. Icke war doch heute im RIAS.
Eben. Sie sind Hahnemann, Helga, geboren achter September 1937 Berlin, wohnhaft Großziethen. Sie kommen aus der besonderen politischen Einheit Westberlin und hielten sich im Bereich des Hetzsenders RIAS auf. Angestachelt von dieser antikommunistischen Hetze haben Sie soeben bei ihrer einmaligen Einreise die Genossen, die an unserer Grenze für die Sicherung des Friedens sorgen, Eierköpfe genannt. Damit beleidigten Sie unseren Friedensstaat und seine fleißigen Werktätigen; sind Sie sich dessen bewusst?
Ach, du lieber Himmel, dis hätt icke vorher ansaren müssn, dass een Eierkopp für mich keen Schimpfwort nich is. Wat glom Se, Herr Untersuchungsleiter, wie sich mein Männe immer wieda freut, wenn icke aams zu ihm sare: Na, komm mein kleener Eierkopp, dann komm bei Muttern im Bette; dann is bei uns nämlich dis Intime anjesacht. Aber weiter will ich hier ja nüscht erzehln, damit Se von ihrer Friedensmission hier am Schutzwall nich abgelenkt wern - oder?
Bürgerin Hahnemann, weichen Sie nicht aus. Nach einer Information unseres informellen Mitarbeiters "Rotes Ohr" haben Sie die Mitglieder der sozialistischen Hausgemeinschaft, der Sie angehören und der kürzlich die Goldene Hausnummer verliehen wurde, im trunkenen Zustand mit dem Gegröle aufgeschreckt: "Jetzt kommt die Süße, dein kleines Engelein, / der tut der Kopf weh vom Heilgenschein.". Mehrfach verstiegen Sie sich zu der provozierenden Äußerung, ein kleines Engelein zu sein. Wer gab Ihnen die Codenamen "Süße" und "Engelein".
Ach Jott, ach Jott, dette saacht mein Alter zu mir, wenn er von mir wat will.
Wen haben Sie in der Frontstadt Westberlin kontaktiert und warum?
Na, dette müssen Se mir aber wirklich gloom, Herr Stasimann; ich kontaktiere überhaupt nich, und habe auch noch nie kontaktiert. Ick kann dis gar nich. Was ist dis überhaupt - kontaktiern? Icke singe und spreche of de Bühne, un die Leute lachen über mir, weiter nüscht. Wat soll da sinn, Herr Friedensmissionär. Kontaktieren! - Wir sinn ordentliche Leute, wir machen sowat überhaupt nicht.
Nächster Punkt. Wir haben den Bericht eines Kundschafter des Friedens vorliegen, aus dem hervor geht, dass Sie heute in Westberlin unseren Minister Erich Mielke einen Giftzwerg genannt haben. Äußern Sie sich dazu!
Also, Herr Geheimvernehmer, dis is ja nu die Höhe. Icke habe den janzen Abend keen Kundschafter des Friedens nich um mich rum jesehen. Hätte der nicht saren müssen: Juten Abend, Frau Hahnemann, icke bin ihr zuständiger Kundschafter, kann icke wat für Se tun? Nischt in diese Richtung hat sich zujetraren. Die Sache mit dem Giftzwerg - also manchmal rutscht einem manchet raus. Dis geht ihnen doch bestimmt auch manchmal so, oder nich? Da müssten Se mal hören, wat ich zu meine Männe manchmal saren tu, wenn der nicht so will wie icke: Suffkopp, Knallkopp, Eierkopp un so. Wir sin doch Berliner, un unsre Sprache hat nun mal so starke Worte. Un wissen Se, icke mach mir doch nich über Ihren Herrn Mielke lustig. Wie oft sare ich zu Männe, Männe sare ich, nimm dir mal an dem kleen Herrn Mielke von die Staatssicherheit een Beispiel; der ist nämlich een Frühaufsteher - und wie schlecht kommst du früh aus die Koje. Wenn du noch die Ohng zuhast, arbeetet der schon wieder an seine unsichtbare Front. Un nu - komm se ma ran - wern Se staun: Icke hatte schon ma vor, den Herrn, wenn er ma von seine Sicherheitsaufgaben loskommt, in meine Show zu nehmen. Wissen Se warum? Der kann nämlich so jut A-Kapella, wenn Se wissen, was dis is. Nee, nee, nüscht mit Kapelle, alleene singt der Ihnen die scheensten Lieder vor, wie zum Beispiel "Der Pfannenflickeer nimmt Seinen Hut: / Adieu Mamsell-Sell-Sell, / Der Flicke war gut..." Na, ich denk doch, Herr Sicherheits-Protokollant, Se wissen, was mit dem Wort Flicke in Wirklichkeet jemeent ist. Ja, janz jenau! Un jetzt ma ehrlich: Wie kann man denn zu so een musikalischen Genie Giftzwerg saren! Da hat ihr Kundschafter aber wirklich falsch hinjehört.
Hahnemanns Hit: "Hundert mal hab icke Berlin verflucht"
Die Echtheit des Gesprächs-Protokoll kann nicht bestätigt werden,hingegen schon die Cleverness der Hahnemann.
Und pfiffig und entgegenkommend musste sie auch manchmal sein. Ihre Texte enthielten natürlich, was man höheren Orts besonders gerne hörte. In ihrem berühmten Berlin-Lied heißt es: "Uff Arbeit klotzen wa mächtig ran." Es ist die humorige Variante der Losung "Meine Hand für mein Produkt".
Auch die vermeintliche Bodenständigkeit der Menschen im Friedensstaat wird herausgestellt.
Der vom Bildhauer Reinhard Jacob (1951) geschaffene Gedenkstein für Claire Waldoff vor dem Friedrichstadtpalast. - Foto: -wn-
"Hundert mal hab icke Berlin verflucht, Hundert mal weit weg mein Glück jesucht, Hundert mal jeheult" - eine freundliche Warnung vor der ertrotzten einmaligen Ausreise. Über die - wie es im Lied heißt - "haufenweise Touristen" in der Stadt freute man sich. Diese Eingereisten sollten sich von der Überlegenheit der für Sozialismus gehaltenen Ordnung überzeugen, aber keinesfalls als Botschafter der freien Welt erscheinen. Auch da zeigte sich Big Helga ein bisschen erbötig. Die Touristen seien, heißt es "von übern großen Teich und (vom) hintern Mond" gekommen. Kein Berliner Humor im engeren Sinne. Eher liebedienerischer Frohmut mit ideologischen Einsprengseln. 1981 im 52. Kessel Buntes verabschiedete sie ihre Gesangspartnerin, die jamaikanische Popsängerin Precious Wilson (geb. 1957), mit der sie das "Knäckebrotlied" darbot, eine hinreißende Adaption des bekannten Titels "Cry to me". Das melancholische Abschied nehmen verbreitete Traurigkeit und führte den Zuhörern die Fährnisse der damals noch geteilten Welt vor Augen.
In die Anerkennung und Liebe, die mit dem Namen der Helga Hahnemann verbunden bleiben, mischte sich auch manchmal Neid. Vor einiger Zeit veröffentlichte die BILD-Zeitung eine "späte Abrechnung mit der Henne". Zwar nennt sie das Blatt "die wohl größte Entertainerin der DDR", gibt jedoch ihrer früheren Bühnenpartnerin im Leipziger Kabarett "Pfeffermühle" Ursula Schmitter (geb. 1924) Gelegenheit zu einem Tritt gegen das Schienbein der Verstorbenen. "Schnell fing sie (damals in Leipzig) an, mir die besten Rollen streitig zu machen. Die Henne kämpfte mit Ellenbogen - wehe, wer ihr in den Weg kam", wird Ursula Schmitter zitiert. Frau Schmitter besuchte die Kollegin kurz vor deren Tod. Ihre Erinnerung: "Sie war dünn, wirkte verletzlich. Ich wusste, sie schafft es nicht. Da hab ich meinen Frieden mit ihr gemacht." Helga Hahnemann war von jener unstillbaren Leidenschaft beherrscht, die erst zu großer Leistung führt. Was sie nicht alles war! Verrücktes Huhn, Ulknudel - besonders mit allen Wassern gewaschen. Und sie machte auch darin keine Ausnahme, dass sich ihre unbefangene Leutseligkeit auf der Bühne backstage meist (wieder) in Rivalität und Konkurrenz zu anderen "lustigen Personen" wandelte.
Wie man zum Friedhof Pankow VII kommt:
Mit der Straßenbahn M1 bis Rosenthal Nord und rund 400 Meter zu Fuß. Der Friedhof hat die Adresse 13158 Berlin, Uhlandstraße 54-56. Das Grab der Familie Hahnemann (Grablage: Abt. 8 U 7) liegt eine halbe Gehminute vom Eingang des Friedhofes entfernt.
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