Das Kolonistendorf Neulietzegöricke - Halleluja aus dem Oder-Kahn

Der Herrgott im Himmel würde sicher wohlwollend, freilich hilflos, auf das niedere Oderbruch hinabgeschaut haben, als - wohl um 1750 - das vermutlich letztmalige Stossgebet einer kleinen Gläubigen-Schar nahe der Ortsausgründung
Haus in Neulietzegöricke
Neulietzegöricke ist ein Ortsteil der Gemeinde Neulewin.
Foto © -wn-
Güstebieser Loose mit dem Ansuchen um baldigen Abfluss der alljährlichen Oderflut zu ihm aufgestiegen war. Vernommen hätte er das lutherische Glaubensbekenntnis und das ihn als den Schöpfer aller Dinge lobende Halleluja. Weder drückte die kleine Brücher-Gemeinde Kirchenbänke noch befand sie sich im Schiff eines gemauerten Münsters. Die Gläubigen saßen vielmehr in mit Stocherstangen zu bewegenden flachen Sumpfkähnen, die sie eigens für den Gottesdienst mit Reepen zu einem schwimmenden Verband zusammengebunden hatten. Der Pfarrer stand breitbeinig balancierend vor ihnen in einem im überschwemmten Bruch-Grund verankerten und mit einem Not-Altar versehenen Kahn. Solche Szenen des Hilflosen gab es häufig im Oderbruch - vor dem Ausheben des heutigen fließstärkeren Oderbettes, vor den umfangreichen Ufer-Eindeichungen und vor dem Ausstechen zahlloser Wasser-Abzugskanäle, durch die die Sümpfe zu anbaufähigem Land gewandelt wurden. Bisher hatten die Anwohner die ständig trocken bleibenden und - zwischen den Hochwassern - die wieder getrockneten Flecken bearbeitet, sie hielten ihr Vieh und saßen ansonsten in ihren Häusern, die zusätzlich mit Kuhdung-Dämmen bewehrt waren. Meist lebten sie vom Fischfang. Mit "Fisch und Krebse und Krebse und Fisch" - wird der frugale Speisezettel beschrieben.
 
Sehenswürdigkeiten in Neulietzegöricke:
  • Vierseitenhof
  • Dorfkirche
  • Heimatstube
  • Hist. Gartenhaus
  • Zugehörigkeit von Neulietzegöricke:
  • Landkreis: Märkisch-Oderland
  • Gemeinde: Neulewin
  • Ortsteil: Neulietzegöricke
  • Amt: Barnim-Oderbruch
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    Wissenswertes über Neulietzegöricke

    Mit der von Preußenkönig Friedrich Zwo (1712-1786) um die Mitte des 18. Jahrhunderts vorangetriebenen Melioration des Bruches wurde vieles anders. (Siehe auch den Beitrag "Die Oder, das Bruch, die Brücher") 130000 preußische Morgen Land (mehr als 30000 Hektar) wurden gewonnen. Diese Flächen übergaben die Königlichen Beauftragten 1300 angelockten Kolonisten-Familien. Eines der 43 gegründeten Kolonistendörfer - das erste von allen - war Neulietzegöricke nahe Zollbrücke. 1753 wurde es als Straßendorf angelegt; noch heute durchzieht der zentrale Schachtgraben den Ort. Er sorgt für Wasserabfluss, und mit dem Aushub wurden die Standorte der Häuser erhöht. Bemerkenswert auch die Herkünfte der Angesiedelten. Friedrichs Rekrutierungs-"Kommission zur Herbeischaffung von Kolonisten" hatte damals für Neulietzegöricke, in dem heute 220 Einwohner leben, 47 Familien interessieren können - eine "bunte Truppe". Der Neusiedler Johann Francke beispielsweise war laut Kirchenbuch ein reformierter Pfälzer, also einer der schon auf calvinistische, strengere Weise evangelisch war. Der lutherische Sachse Johann Kleinschmidt kam aus dem Harz. Der Lutheraner David Sauder reiste aus Südwest-Deutschland an, Frieder Teske wies sich als polnischer Anhänger des Wittenberger Reformators aus, und mit dem gleichgläubigen Stephan Wehler kam zusätzlich der österreichische Dialekt an die Oder.

    "Allen denen, die sich niederließen, ward eine vollständige Freiheit von allen Lasten auf fünfzehn Jahre gewährt", berichtet Fontane. Zahlreiche Kolonisten wurden deshalb nach wenigen Jahrzehnten wohlhabende Bauern. Der Boden gab viel her, wird als ein schönes, fettes Erdreich mit einer großen Fülle von Humus geschildert. Für den konservativ-preußisch gesinnten Theodor Fontane hat dieser Wohlstand auch bedenkliche Seiten. In den Bruchdörfern sei dem Dichter zumeist jene Tüchtigkeit begegnet, "die aus starkem Egoismus und dem Instinkt des Vorteils hervorgeht" - sowie weiteres. Der Bauer schreite sonntags im langen Rock, ein paar weiße Handschuh an den Händen, langsam und gravitätisch nach der Kirche; aber er sitze am Abend oder Nachmittag desselben Tages im Gasthof des Dorfes und vergnüge sich bei Spiel und Wein. Alle Arten von Hazardspielen lösten sich untereinander ab, und um hundert Taler ärmer oder reicher, wüst im Kopfe, gehe es weit nach Mitternacht nach Haus, schreibt Fontane. Neulietzegöricke selbst hat den sonst selten einem märkischen Winkel ausweichenden Wanderer zu keinem Besuch angeregt, ihn stattdessen belustigt. Auf einer Odertour von Frankfurt nach Schwedt im Jahre 1863 lobt er die nach seinem Gefühl poetisch klingenden, vokalreichen Namen solcher Uferorte wie Hohensaaten sowie das heute polnische Radun und Hohenkränig (Krajnik Gorny). Sie erinnerten "in nichts … an die triviale Komik von ‚Güstebiese' oder ‚Lietzegöricke'".

    Unabhängig von diesen ästhetischen Finessen war die Kolonisierung des Oderbruches eine wirtschaftliche Erfolgsgeschichte. Zweifellos lag es auch daran, dass die Akteure dieser Zeit - einschließlich des Alten Fritzen - unverkrampft mit Migrationshintergründen umgingen, auch wenn die Migranten von nicht allzu weit herkamen. Dies zusammenfassend warnt etwa die "Oekonomische Encyklopädie … der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft", die zwischen 1773 bis 1858 in 242 Bänden erschien, ausdrücklich vor einer Gettoisierung von angeworbenen Zugewanderten. Es sei "nicht wohlgethan, dass man die auswärtigen Colonisten in einem Orte und in einer Gegend, ohne sie mit Einheimischen zu vermischen, beysammen ansässig macht". Die Auswärtigen könnten "manches Gute, so für unsern Ackerbau nützlich wäre, wissen, und dieses geht für die Einheimischen, die von ihnen abgesondert leben, ebenfalls verloren", heißt es in dem Kompendium.

    In Neulietzegöricke stimmte die Mischung. Und zumindest ein Nachkomme eines ersten Siedlers, der vermutlich ein aus Polen gekommener Chr(istian) Borkenhagen war, lebt noch im Dorf: Diplom-Ingenieur Eckhard Borkenhagen. Wie der in Frankfurt Oder erschienene "Öffentliche Anzeiger" am 18. August 1869 vermeldet, machte sein späterer Vorfahr, der Büdner Ludwig Ferdinand Borkenhagen, eine "Grundsteuer-Entschädigung" für das "Colonistengut Hyp. Nr. 10" geltend. Dieses Gut ist zu einem großen Teil der heute unter Denkmalschutz stehende Vierseithof, den Eckhard Borkenhagen und seine Familie bewohnen und liebevoll pflegen. Trotz der preußischen, auf gerade Linien bedachten Penibilität, mit der das Dorf seinerzeit in die Landschaft hineingepasst wurde, vermitteln die meistenteils rekonstruierten Fachwerkhäuser, die alten Bäume und die spürbare Entrücktheit des Platzes eine Stimmung, die spüren lässt: Hier verstreicht die Zeit zwar scheinbar etwas langsamer als anderswo, aber dennoch steht nichts still. Zudem das Dörfchen mit dem auf Stetigkeit zielenden Slogan wirbt: "In Neulietzegöricke geht die Sonne auf!"
    Von Berlin aus benutzt man mit dem Auto die B158 Richtung Bad Freienwalde. In der Stadt geht es rechts auf die B167. Auf der Höhe von Altranft biegt man nach links in die Landstraße 281 Richtung Zuckerfabrik und Zollbrücke ein. Kurz vor Zollbrücke liegt der Zielort rechterhand.
    Text: -wn- / Stand: 11.06.2014


     
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