Wittenberger Thesentür

Text: -wn- (Journalist aus Berlin) / Letzte Aktualisierung: 18.02.2023

Blick auf den Wittenberger Marktplatz
Blick auf den Wittenberger Marktplatz - Foto: © -wn-

1517 veröffentlichte Martin Luther 95 Thesen gegen Ablassmissbrauch an der Haupttür der Wittenberger Kirche. Eine Nachbildung der Tür kann man noch heute dort besichtigen.

Luthers Aushang an der Wittenberger Kirchentür: Bibel, Thesen, Sakramente

"Lieber Heiland, mach' mich fromm, dass ich in den Himmel komm'! Amen." Wer christlich erzogen wurde und später - vielleicht ein Atheist geworden - die geistige Nähe zu einem der größten Ideenträger der Weltgeschichte, Jesus Christus (4 v. Chr.-30 oder 31 n.Chr.), nicht aufgibt, wird sich zumindest an die rührende Einfalt dieses Gute-Nacht-Spruches erinnern. Nach der Andacht löschte Mutti meist das Licht. Heranwachsende zu solchen Bittgebeten anzuhalten, entspringt konfessionell bedingter elterlicher Fürsorge.

Die Nachkommen sollen davor bewahrt werden, den Weg einer Selbstbezichtigung gehen zu müssen, auf dem einer begangenen Sünde die aufwendige Beichte und Buße folgen. Katholiken und Protestanten haben für die Fehltritts-Regulierung unterschiedliche Verfahren. Da aber heutige evangelische Christen sogar Sünder sein dürfen, erscheint das Tun und Lassen dieser Gläubigen im Lichte der Zehn Gebote eher entspannt, als dass religiöse Disziplin mit Drohungen und Bußzahlungen gesichert werden müsste. Mehr noch: "Niemand (muss) Angst vorm Versagen haben", erklärt die evangelische Theologin Margot Käßmann (geb. 1958) in der ZEIT (17/2013). Die beredte Pfarrerin weiß, wovon sie spricht; hatte sie doch selbst Anlass, sich mit eindrucksvoller Selbstgewissheit zu der Erwartung durchzuringen: "Du kannst nie tiefer fallen als in Gottes Hand." Deshalb schreibt sie auch: "Das Scheitern an den eigenen Ansprüchen, an Gottes Geboten ist im christlichen Glauben eingebettet in das Wesen um Vergebung, um die Möglichkeit von Versöhnung und Neuanfang." Dabei beruft sie sich auf ihren geistigen Ziehvater, den Eislebener Bergmannssohn und späteren Wittenberger Professor für Bibelauslegung Dr. Martin Luther (1483-1546). Dieser verfasst 1520 einen religiösen Essay (Sermon), in dem es nicht um Beugen und Beten und Büßen geht, sondern zu allererst um die "Freiheit eines Christenmenschen" - eine für spätmittelalterliche Verhältnisse aufreizende Formulierung mit Langzeitwirkung. Im Sermon heißt es dann: "Der Christenmensch ist ein freier Herr aller Dinge und niemandem untertan. Der Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan." Der entscheidende Punkt: "Das ist die christliche Freiheit: der Glaube allein. Er bewirkt ... dass wir keines Werks bedürfen, um Rechtschaffenheit und Seligkeit (vor Gott) zu erlangen." Man muss - einfach ausgedrückt - nichts zahlen, ja nicht einmal Gutes tun, um oben im Himmel geliebt zu sein. Zum Zeitpunkt dieser unerhörten Behauptung waren bereits drei Jahre vergangen, seit Martin Luther einen Papierbogen vermutlich in der Größe eines heutigen DIN A1-Formates mit 95 kurz gefassten Thesen an der Großen Tür auf der Nordseite der Schloss- und Universitätskirche befestigt hatte. Betreff: Das Vergelten von Sünden. Der Verfasser wollte sagen: Ich bagatellisiere die Sünden der Menschen nicht und rufe dazu auf, sie nach den Maßgaben des Evangeliums zu vermeiden. Aber er besteht darauf, dass religiöser Frevel und Irrgang kostenfrei bleiben müssen, was die damalige Römische Kirche unbedingt anders sah.
Für das Aussetzen einer nach dem Tod zu erwartenden Strafe ließ sie von Drückerkolonnen einen geldwerten Ablass auf eine Art und Weise anbieten, auf die heute Oma und Opa immer aufs Neue wieder hereinfallen, indem sie sich etwa auf der Kaffeefahrt ein billiges Unterbett zu einem haarsträubenden Preis andrehen lassen.

Inzwischen ist die Wissenschaft weitgehend davon überzeugt, dass Martin Luther tatsächlich am Mittwoch, dem 31. Oktober 1517, seine Thesen durch einen Anschlag bekanntzumachen suchte. Dafür spricht eine 2006 in Jena aufgefundene Notiz des langjährigen Luther-Sekretärs Georg Rörer (1492-1557). Man kann allerdings nur vermuten, dass sich Martin Luther am Nachmittag davon persönlich überzeugen wollte, ob jemand seinen Aushang überhaupt las. Es ist davon auszugehen, dass dies kaum der Fall war. Im Gegenteil: Die Menschen gingen meistenteils an den Thesen vorüber. Vor allem auch deshalb, weil die wenigstens Latein beherrschten. Erst gegen Weihnachten soll es eine deutsche Übersetzung gegeben haben. Für Luther mag die anfänglich mangelnde Aufmerksamkeit unter den Theologen für seine 95 Lehrsätze irritierend gewesen sein; hatte er doch bereits Monate zuvor auch mit den 97 "Urthesen" kaum Erfolg gehabt. "Es war ein völliger Schlag ins Wasser. Die gelehrte Welt nahm einfach keine Notiz", schreibt der Publizist Richard Friedenthal (1896-1979) in seinem Buch "Luther - sein Leben und seine Zeit". Man will es gar nicht glauben, dass diese neuartige Idee erst ein Stadium weitgehenden Desinteresses durchläuft bis sie letztlich in die stürmische Periode eines sich über Jahrhunderte weiterhallenden Echos eintritt. Mit Verzögerung kam die von Martin Luther angeregte wissenschaftliche Diskussion über die "verkehrte Bußgesinnung" zustande - also darüber, ob der Mensch für seine eigenen und sogar für die Sünden seiner bereits verstorbenen und in der Kurzzeithölle, dem Fegefeuer, schmachtenden Verwandten bezahlen sollte oder nicht.

Die Theologin Margot Käßmann war "Botschafterin für das Reformationsjubiläum 2017"

Thesentür an der Wittenberger Schloss- und Universitätskirche
Die 1858 vom preußische König Friedrich Wilhelm IV. gestiftete bronzene Thesentür an der Wittenberger Schloss- und Universitätskirche. Sie stammt aus der Werkstatt des Bronzegießers und Ziselierers Carl Ludwig Friebel. Foto: © -wn-

Wir Heutige wissen, dass der Wittenberger Thesenanschlag die Gründungshandlung der evangelischen Kirche ist, weswegen Margot Käßmann "Botschafterin für das Reformationsjubiläum 2017" im Auftrag des Rates der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) war. Das heißt, sie bereitete jenen 31. Oktober 2017 vor, an dem ein halbes Jahrtausend vergangen sein war, seit der Reformator dieses Hauptportal - ohne auch nur die leiseste Ahnung zu haben - zu einem Geschichtsort allererster Klasse machte. Denn es gibt nicht allzu viele Portale auf der Welt, die sich so nachhaltig ins Gedächtnis der Menschheit einprägten wie dieser Haupteingang zur Wittenberger Kirche. Doch fast immer geht es blutig zu, wenn sich Weltgeschichte entfaltet. Und meist ist auch ein Tor im Spiel, durch das sich die Akteure kämpfen. Denken wir an die Bastille genannte Stadttorburg am rechten Ufer der Seine im Osten von Paris mit ihrem Eingang an der Straße St. Antoine. Man schreibt den 14. Juli 1789; es ist gegen zwei Uhr nachmittags. "... und nun unternamen die Aufgebrachten (Demonstranten) das große Werk, dessen Ausgang allen Ansehen nach, ihrem Vorhaben nicht im Geringsten entsprechen konnte. Aber es gelang!" heißt es in einer 1789 in Frankfurt (Main) und Leipzig veröffentlichten "Aechten und deutlichen Beschreibung der Bastille". Hier ist es die erste von mehreren Bastille-Zugbrücken, von der man heute sagt, an ihr habe die Französische Revolution ihren Ausgang genommen. Zwei Kartätschen-Schüsse zerstörten ihre Schließmechanik - und der Weg war frei. Die späteren Proklamationen über grundlegende Bürgerrechte dieser sich nun vollziehenden Französischen Revolution - später Code Napoleon genannt - liest man heute auch im Deutschen Grundgesetz. - Ein weiteres Portal, das mit dem Verlauf der Weltgeschichte verbunden ist, kann man am Palastplatz in St. Petersburg besichtigen. Es ist der schmiedeeiserne, mit den Insignien des russischen Zarentums versehene Eingang zum Winterpalais, das heute ein Teil der weltberühmten Ermitage ist. Durch dieses Tor stürmten in der Nacht vom 7. zum 8. November 1917 (nach dem damals gültigen Julianischen Kalender in der Nacht vom 25. zum 26. Oktober) bewaffnete Bolschewiki unter der Führung von Lew Dawidowitsch Trotzki (1879-1940) das Palais, das zu dieser Zeit Sitz der Provisorischen Regierung unter Vorsitz des Rechtsanwaltes Alexander Fjodorowitsch Kerenski (1881-1970) war. Das verabredete Signal zum Sturm auf das Palais gab das im St. Petersburger Hafen liegende Kriegsschiff Aurora mit einem Platzpatronenschuss aus der Bugkanone. Die darauf folgende Verhaftung der Regierungsmitglieder (Kerenski war geflohen) wird in der sowjetischen Geschichtsschreibung als Ereignis von weltgeschichtlicher Bedeutung eingestuft. Die Annahme erwies sich als nicht stichhaltig. So eindrucksvoll heute das Tor zur Ermitage ist - mit dem wesentlich bescheideneren Wittenberger Kircheneingang kann es dennoch wegen seiner begrenzt gebliebenen Historizität nicht mithalten.

Turm der Wittenberger Schloss- und Universitätskirche
Der Turm der Wittenberger Schloss- und Universitätskirche aus westlicher Richtung gesehen - Foto: © -wn-

Die Touristen sehen heute an der Schlosskirche allerdings nicht mehr die originale Tür. Das Portal und die gesamte Kirche waren im Siebenjährigen Krieg (1756-1763) das Ziel von Kanonenschüssen, die das Bauwerkwerk in sich zusammenfallen ließen. Im Jahr 1770 entsteht ein Ersatzbau in einfacher Form. 1858 stiftet der preußische König Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) die bronzene Thesentür. Sie stammt aus der Werkstatt des Bronzegießers und Ziselierers Carl Ludwig Friebel (1812-1856). Von 1885 bis 1892 wird die Schlosskirche schließlich im neugotischen Stil umgebaut. Dass in Zukunft vermutlich noch viele Menschengenerationen vor der Lutherstädter Kirchentür stehen und sagen werden "Hier also ist es gewesen - das mit dem Luther" - das hat vor allem auch mit dem damaligen Kurfürst von Sachsen Friedrich III. (1463-1525) zu tun. Er ist der Potentat mit den vielen Leidenschaften. Sie brachten ihm mancherlei Namen ein. Seiner Esslust und Leibesfülle wegen nannten ihn die Leute "fettes Murmeltier". Wegen seiner Achtung vor der Wissenschaft erhielt er aber auch den Namenszusatz "der Weise". Immerhin geht die Gründung der später berühmten Universität Wittenberg (1502) auf ihn zurück. Er hätte desgleichen den Beinamen "der Retter" verdient, denn diesem katholischen Kurfürsten hat der 1521 exkommunizierte und für vogelfrei erklärte Reformator womöglich das Leben zu verdanken, zumindest aber ein sicheres Versteck. Auf dem Weg vom Wormser Reichstag zurück nach Wittenberg wurde Martin Luther am Abend des 4. Mai von Friedrichs Soldaten "überfallen" und auf die Wartburg bei Eisenach gebracht. Der Kurfürst war kein Papstgegner wie Luther, aber er verurteilte die Römische Geldgier, derentwegen die Ablasshändler durch die Lande zogen. Aber auch Friedrich hat Ablassbriefe im Angebot. Er nennt es Heiltumsablass, der bei Zahlung selig mache. Die Menschen in Wittenberg, die an den ausgehängten 95 Thesen vorbei gingen, wollen statt dessen gegen Geld einige der sündentilgend wirkenden Reliquien in Augenschein nehmen, die der Kurfürst mit wahrer Begeisterung sammelt und ausstellt. Unter den sakralen Exponaten sind ein Halm vom Stroh der Krippe Christi, ein Haar der Gottesmutter, ein Tropfen Milch aus ihren Brüsten, ja sogar der getrocknete Leichnam eines von der Soldateska des Herrschers Herodes (73-4 v. Chr.) beim bethlehemitischen Kindermord erschlagenen Jungen (Matthäus 2 ff.).

Der bekannte Tetzel-Spruch: "Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer springt."

Trotz ihrer Popularität erlangte keine der 95 Thesen so einen Bekanntheitsgrad, dass sie in das deutsche Sprichwort-Reservoire eingegangen wäre. In Erinnerung bleibt bis heute Martin Luthers Weigerung beim Augsburger Reichstag, seine Lehre zu widerrufen. Sein "Hier stehe ich. Gott helfe mir. Ich kann nicht anders" wird häufig zitiert. Sein damaliger Gegenspieler, der wortgewandte Theologe und Ablassprediger Johannes Tetzel (1465-1519), ging mit einem ebenfalls volkstümlich gewordenen Spruch in die Geschichte ein: "Sobald das Geld im Kasten klingt, die Seele aus dem Feuer (oder in den Himmel) springt." Mit Johann Tetzels Erscheinen erhält das im 16. Jahrhundert gebräuchliche "Gottvergeldts", bisher eine Belohnung Gottes für die gute Tat, eine weitere Bedeutung. Der Herrgott vergilt nun auch dem zahlenden Sünder. Die Gründe für die religiös verbrämte Geldbeschaffung sind nicht seelsorgerischer Art, vielmehr höchst irdisch. Papst Leo X. (1475-1521), der seinerzeit Martin Luther verfolgen ließ, braucht Geld zum Bau des Petersdomes. Albrecht Kardinal von Brandenburg (1490-1545) hat beim Geldhaus der Fugger erhebliche Schulden. Dieses Verhohnepipeln der Christen und ihrer Gefühle ist der Urgrund für die Abfassung der 95 Thesen. Weniger bekannt ist, dass Johann Tetzel seinen Zuhörern, die er meist im Sächsischen zusammenrief, auch Ablass versprach, wenn sie nicht in der Lage waren, wenigstens ein paar Münzen in den berüchtigten Kasten zu werfen. Darauf berief sich 1516 im gerade erst gegründeten erzgebirgischen Annaberg ein gewitzter Bürger namens Myconius. Dieser bat um den versprochenen bargeldlosen Ablass - verdächtigerweise in fließendem Latein. "Man schöpfte Verdacht, Myconius möchte wohl abgeschickt sein, allein er antwortete auf sein Gewissen, (nur) das Zutrauen zur unentgeltlichen Sündenvergebung habe ihn zu der Bitte vermogt", heißt es in der 1853 erschienenen Publikation des katholischen Theologen Valentin Gröne (1817-1882). Die Tetzel-Leute hätten dem Myconius angeboten, wenigstens einen Ablassbrief für 6 Pfennige zu erwerben. Dieser lehnte ab und erklärte plötzlich und überraschend, er fühle, dass die kostenfreie Ablasswirkung inzwischen eingetreten sei. "Myconius ... entfernte sich voll des Trostes, dass noch ein Gott im Himmel lebe, der den Reuigen durch den Glauben die Sünden vergebe auch ohne Geld", überliefert Valentin Gröne weiter. Myconius will genau in diesem Moment Gottes Gnadenangebot als Sakrament körperdurchgängig erlebt haben. Da entstand auf dem Annaberger Marktplatz die Frage, wer von den Anwesenden in diesem Moment der ausgekochtere Spitzbube war.

Wie man nach Lutherstadt Wittenberg kommt:
Die Lutherstadt Wittenberg nahe der Grenze zum brandenburgischen Landkreis Teltow-Fläming liegt an der Autobahn A9. Von der Abfahrt Coswig bis in die Innenstadt sind es 18 Kilometer. Direkt durch die Stadt führt die älteste deutsche Bundesstraße B2, die Brandenburg, Berlin, Sachsen-Anhalt, Sachsen, Thüringen und Bayern verbindet.

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