Der Türkische Friedhof in Berlin: Gebet aus dem Beutel / Das arme Murkelchen

Text: -wn- (Journalist aus Berlin) / Letzte Aktualisierung: 19.04.2023

Türkische Friedhof
Der alte geschlossene Türkische Friedhof im Hof der Mosche; im Hintergrund rechts die Gedenksäule u.a. für den osmanischen Botschafter Ali Aziz Efendi (siehe Text) - Foto: © wn

Nachmittag ist es, Zeit für das dritte Gebet der fünf täglichen Anrufungen Allahs, zu denen gläubige Muslimas und Muslime angehalten sind. Am östlichen Saum des Türkischen Friedhofes schräg hinter der Neukölner Sehitlik-Moschee sitzt eine ältere ernst blickende Frau mit hellbraunem Teint. Dunkelblau, weit und lang ist ihr Mantel, ein weißes Kopftuch verbirgt das Haar.

Von ihrem weißen Bistro-Stapelstuhl aus Plaste blickt sie auf ein Grab zu ihren Füßen; geziert wird dieses von einem Stein, von kleinem Gesträuch, ein paar Blumen und von einem keramischen aufgeschlagenen Klein-Koran. Es herrscht Ruhe. Selbst der Lärm des nahen Columbiadammes dringt kaum hierher. Hingegen ist aus seiner Richtung durch die alten hohen Bäume das schweigende hohe Minarett der Moschee zu sehen mit dem schön verzierten Umlauf unterhalb der Spitze. Man fragt sich: Warum wohnt die Frau - wenn sie hier schon am Bet-Ort ist - dem Nachmittagsgebet im Frauenteil der Moschee nicht bei? Der Grund: Auf einem Stapelstuhl neben ihr liegt ein Beutel, aus dem - nachdem sie hineingegriffen hatte - plötzlich eine männliche a-cappella-Stimme kommt - zweifelsfrei die eines muslimischen Vorbeters. Es ist ein Muezzin, dessen Stimme auf CD gebrannt und ambulant verfügbar ist. Die Frau scheint aber die Gebetsrufe aus dem Rekorder nur beiläufig zu hören; ihre Lippen bewegen sich - sie spricht mit dem Verstorbenen im Grab. Es ist nicht selten auf muslimischen Friedhöfen, dass sich Frauen an Gräbern um ihre Toten kümmern, ihnen erzählen und glauben, Antworten der Verblichenen zu hören. Aber da! Was tut die Frau auf dem Stapelstuhl in diesen Momenten noch? Sie raucht ein dünnes langes Zigarillo. Allah übersieht das wohl. In der Sehitlik-Moschee nebenan bringt indessen der Muezzin seinen Lobgesang einschließlich Gebetsaufruf halb sprechend halb singend zur Geltung - man sagt, was hier zu den ornamental geschmückten Gewölben der Bethalle aufsteigt, das sei das Glockengeläut der Muslime. Jedes Gebet beginnt mit einem "Allahu ạkbar!" (Gott ist groß). Nachmittags ist der Gesang aber eher gebremst, nicht zu vergleichen mit dem leidenschaftlichen Weckruf in der Morgendämmerung nach der Maßgabe "Gebet ist besser als Schlaf". Beim Hellwerden bricht es stimmgewaltig aus dem Muezzin heraus; einige spülen sich zuvor ihre Stimmbänder mit Honigmilch oder schwarzem Tee mit Kardamom. Tremoloartig dehnt der Muezzin die HeiligenWorte Gott, Gebet, Allah und Mohammed aus, solange eben der Luftvorrat reicht. Nach dem Luftholen geht der Gesang über in ein üppiges, die Melodie verschönerndes Vibrato. Es ist gesungene Zierkunst von hohen Graden. Für die einen ist damit die Nähe zu Allah hergestellt, andere bekommen eine Vorstellung vom Reichtum der türkischen Musiklandschaft. Jedem aber, der dem Muezzin zuhört, tritt mit diesem Gesang der Islam als Weltreligion des Friedens und unbedingter Lebensbejahung entgegen. Warum zürnt Allah deshalb nicht, wenn der ägyptische Terrorist und Angehörige des Islamischen Jihad Muhammad al-Zawahiri (geb. 1953) wiederholt prahlerisch erklärt: "Die Muslime lieben den Tod wie andere das Leben." Es ist unwahr. Auch Muslime wollen das Leben zur Unzeit nicht verlieren. Eine das Leben geringschätzende Todessehnsucht kennt der Koran nicht. Sure 5:106 spricht vom "Unglück des Todes".

Johann Wolfgang von Goethe - ein Muslim?

Auf das Fehldeuten, ja Verleumden Heiliger Urtexte aus politischem Kalkül und Machtanspruch macht schon Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) aufmerksam. Die zwischen 1749 und 1832 erschienene Gedichtsammlung "West-östlicher Divan" - ein poetisches Stück Weltliteratur - enthält ein Gedicht, in dem vor "neuen Derwischen" gewarnt wird:

"Sonst, wenn man den heiligen Koran zitierte,
Nannte man den Sure, den Vers dazu,
Und jeder Moslem, wie sich's gebührte,
Fühlte sein Gewissen in Respekt und Ruh.
Die neuen Derwische wissen's nicht besser,
Sie schwatzen das Alte, das Neue dazu.
Die Verwirrung wird täglich größer;
O heiliger Koran! O ewige Ruh!"

Mit solchem Befund wie auch mit seinem viel zitierten Satz
"Wer sich selbst und andere kennt,
Wird auch hier erkennen:
Orient und Okzident
Sind nicht mehr zu trennen."

- damit hat sich Goethe in den Augen vieler intellektueller Muslime als ein zu verehrender Mensch erwiesen, der eher dem Islam statt einem gottfernen Pantheismus zugeneigt sei. Tatsächlich tritt Goethes kosmopolitisches Weltbewusstsein zutage - trotzdem er im Weimarer Klein-Klein zu leben hatte. Der Schriftsteller Rüdiger Safranski (geb. 1945) bemerkt in seinem erschöpfenden Goethe-Buch, der Dichter "lehnt den Verdacht nicht ab, dass er selbst ein Muselmann sei".
In der rund 1400jährigen islamischen Geschichte gibt es immer wieder Versuche, Teile des Korans dem Leben anzupassen, ohne ihn freilich umzuschreiben. Eine lebensnähere Auslegung ist immer das Ziel. Bereits der bedeutendste Dichter der persisch-islamischen Mystik, Djalal od-Din Rumi (1207-1273), dessen viel besuchtes Grab sich in der mittelanatolischen Stadt Konya befindet, stellt die Toleranz im Leben der Gesellschaft ganz obenan und hält das Gespräch mit Andersglaubenden für unerlässlich. Er riet ab, Menschen, die keine Muslime sind, als Ungläubige und Sünder zu betrachten. Mancher Versuch scheitert tragisch. Der ägyptisch Publizist Faradsch Fauda (geb 1942) verliert zum Beispiel für seinen Satz "Uns Muslimen fehlt ein (Reformator) Martin Luther" 1992 das Leben. Aber der strenge Gebetsalltag des Islam wird vor über 900 Jahren auch mit heiterem Blick betrachtet. Der persische Mathematiker, Astronom, Philosoph und Dichter Omar Chayyam (1048-1131) der u.a. ein bedeutendes Werk über die Algebra verfasste, ist offenbar nicht nur kreativ, sondern auch ein lebenslustiger Gelehrter. Dafür sprechen seine aufklärerisch-skeptischen "Vierzeiler", in denen der Muezzin nicht fehlt:
" Horch! der Muezzin ruft vom Minarete!
Wohlan, ich bin bereit, schenkt Wein mir ein!
Wer möchte solche Stunde durch Gebete
Und Predigthören wohl entweihn!

So viel will ich trinken, dass einst der Duft
Des Weines noch steigt aus meiner Gruft
Und die Zecher, die hin zu dem Grabe wallen,
Berauscht von dem Dufte zu Boden fallen."

Wichtig ist hinzuzufügen: Omar Chayyam stirbt einen natürlichen Tod.

An "Murkelchens" Grab

Der Türkische Friedhof unterscheidet sich von einem deutschen etwa durch das Fehlen jeglicher akkuraten "Überschmücktheit". Alle Gräber besitzen einen Stein mit Inschrift. Nicht überall wachsen Blumen. Selten ist das Grab herausgeputzt und zum Statussymbol erhoben. Ein Grabstein fällt aus dem Rahmen. Auf ihm eröffnet sich die jüngere deutsche Märchenwelt. Man steht am Grab des kleinen Noah-Cevdet. Ein Bild auf dem Stein zeigt ihn als einen Jungen mit fröhlichen Augen; aus unbekanntem Grund stirbt er am 25. März 2013 - wenige Tage vor seinem dritten Geburtstag. In seiner deutsch-türkischen Familie Wegner-Yildirim bekam er einen Kosenamen, der an das 1947 erschiene Kinderbuch von Hans Fallada (1893-1947) "Geschichten aus der Murkelei" erinnert. Wie auf dem Grabstein vermerkt, hat man Noah-Cevdet den Kosenamen "Murkelchen" gegeben. In der letzten "Murkelei"-Geschichte wird geschildert, wie sich ein Junge namens Murkel auf den Weg zum Erwachsensein macht. Aus der Kindheit nimmt er die Erkenntnis mit, dass "es auf dieser Welt (so ist): Wenn man etwas nur wirklich glaubt, so ist es auch da" - oder man wird es mit Fleiß erreichen. Diese Zielstrebigkeit und dieses intensive Wollen durfte Noah-Cevdet durch seinen frühen Tod nicht in sich wecken. Armes, armes Murkelchen! Die Inschrift auf dem Grabstein endet, wie auch auf anderen, mit dem Gotteslob aus der ersten Sure des Korans: Ruhuna fatiha.

Minarett der Sehitlik-Moschee
Das Minarett der Sehitlik-Moschee vom Türkischen Friedhof aus gesehen
- Foto © wn

Murkelchen stirbt ohne Schuld. Es gibt andere Sterbefälle. Zu den besonders aufwendig geschmückten Gräbern gehört das der beiden Brüder Ibrahim Osman Remmo (geb. 1989) und Bilal Osman Remmo (geb. 1987). Sie stammen aus einer libanesischen Großfamilie. Am 21. Dezember 2008 kommen sie beide bei einem schweren Unfall in Blankenfelde-Mahlow ums Leben. Nach einem Drogerie-Einbruch sind sie mit einem mehr als 100000 Euro teuren BMW auf der Flucht vor der Polizei und prallen bei hohem Tempo gegen einen Baum. Der Unfallwagen ist Schrott. Beide sterben sofort. Sie sind nach Presseberichten vorbestraft und stehen auf der Intensivtäterliste der Berliner Staatsanwaltschaft. Der Fahrer des BMW Bilal Osman Remmo ist nach Meinung der Behörde auch der "Todesfahrer vom Potsdamer Platz", der Mitte Oktober 2008 einen 77-jährigen Touristen aus Zwickau zu Tode fuhr und flüchtete. Taten, Flucht und Tod der beiden Täter bringt die islamische Mystik in Bewegung. Ein Kenner dieser Mystik, der Tübinger Islamwissenschaftler Josef van Ess (geb 1934), befasste sich mit Vorstellungen des Volksislam über Sterben und Tod. Dort sei die Auffassung verbreitet, "dass der Mensch bereits im Grabe Rechenschaft über sein Leben ablegen muss", so dass zwei Engel über ihn gegebenenfalls eine "Grabesstrafe" verhängen können. Eine Strafe bestünde aus dem Leiden, die ein verengtes Grab auslöst. Die Annahme geht auf die Koran-Sure 9/101 zurück, in der es heißt: "Wir werden sie (die Sünder) zweimal bestrafen." Selbst nichtreligiöse Menschen werden mit Blick auf das Grab der beiden Brüder die Angaben Josef van Ess' mit der Bemerkung kommentieren: Gut, wenn es also so ist... Dabei fehlt es in der muslimischen Literatur nicht an Aufrufen, gesetzestreu zu leben. 1805 erscheint in Konstantinopel (Istanbul) eine ausführliche Anleitung zum nichtkriminellen und moralischen Leben. Dort heißt es: "Doch wer das Sträfliche entbehrt, / Stets nach der Satzung (Koran) lebt, / Im Harem und bei seinem Heerd / Nur sich Genüsse webt, / Der ist allein, der sagen kann: / Heil mir! Ich bin ein Muselmann."

Der überraschende Tod von Ali Aziz Efendi

Als ein solcher kann der ebenfalls hier bestattete ehemalige osmanische Gesandte in Berlin, Ali Aziz Efendi (1749-1798) angesehen werden. Er ist Diplomat und Poet dazu. Sein Buch "Muhayyelat" (Phantasien) wird in der Türkei noch heute gelesen. Das Buch "in drei Träumen" beschreibt Dämonen, Derwische und Daseinssorge. Ein Rezensent meint heute, das Buch sei das "erste Beispiel für osmanisches Experimentieren mit der Form der literarischen Prosa, in dem Exotisches neben Heimischem, Märchen neben Novelle, Magie neben Mystik, Phantasie neben Realismus blühen." Am 4. Juni 1797 kommt der Autor nach Berlin und bezieht angemietete Räume im Ephraim-Palais. Am 29. Oktober 1798 stirbt er überraschend. Am nächsten Tag berichten die "Berlinischen Nachrichten": "Gestern gegen Mittag starb all hier, nachdem er sich am Morgen noch vollkommen wohl befunden hatte, am Schlagflusse, der türkische Botschafter am hiesigen Königl. Hofe, Ali Azis Effendi, im 49. Jahre seines Alters. Es war ... ein Mann, der Wissenschaften und Künste nicht bloß liebte, sondern mit beiden sich eifrig beschäftigte, dadurch seinem Posten Ehre machte, und sich allgemeine Achtung erwarb." Der 28jährige König Friedrich Wilhelm III. (1770-1840) hat nun ein Problem. In die Türkei kann man Aziz' Leiche wegen des langen Weges nicht schicken, und auf einem christlichen Friedhof darf sie nicht beerdigt werden. Ein muslimischer Friedhof ist vonnöten, dies umso mehr als die Verbindungen Preußens und des Osmanischen Reiches wegen einer unerledigten Bestattungssache nicht gestört werden sollen. Der König nimmt kurz entschlossen 40 Taler (ca. 80 Euro) in die Hand und kauft beim Besitzer des Rittergutes Tempelhof, dem preußischen Landrat Friedrich Heinrich Podewils (1747-1804), ein Stück Land, auf dem die Leiche Aziz' nach muslimischem Ritus mit dem Gesicht in Richtung des rund 4200 Kilometer entfernt liegenden Mekkas bestattet wird. Über 2000 Berliner, heißt es, hätten sich um den offenen Sargwagen gedrängt - auch weil die Türkischen Leichenbegleiter Münzen unters Volk warfen.
Der muslimische Begräbnisplatz befand sich auf dem Gelände der heutigen Grundschule in der Urbanstraße Nr. 15, die nach Ali Aziz Efendi und dem bekannten türkischen Schriftsteller Nesin (Mehmet Nusret; 1919-1995) benannt ist. Die Totenruhe Ali Aziz Efendis und weiterer Bestatteter währte 68 Jahre. Im Dezember 1866 werden deren Überreste exhumiert, weil an dieser Stelle eine Kaserne gebaut werden soll. Noch im selben Monat werden die Gebeine auf dem heute geschlossenen kleinen Türkischen Friedhof an der zwischen 1999 und 2004 gebauten Sehitlik-Moschee bestattet. Eine Gedenksäule im Innenhof der Moschee erinnert an Ali Aziz Efendi und an weitere damals exhumierte Türken. Lange davor war in Preußen eine regelrechte "Türkenmode" ausgebrochen. Ironisch meint schon König Friedrich II. (1712-1786) "Datteln essen gehört (heute) zum guten Ton in Berlin, und die Gecken pflanzen sich einen Turban aufs Haupt." Türkische Literatur wird zum Inbegriff von Weisheit und Güte. In Kunst, Architektur, Mode und Wissenschaften treten türkisch-osmanische Einflüsse zutage. Dieses Hochschätzen des Türkischen verführte den ersten osmanische Gesandte in Berlin, Ahmet Resmi Efendi (1694 od. 1695-1783), in seinem Buch "Gesandtschaftlichen Berichte (aus) Berlin 1763" zu der Feststellung: "Die Einwohner (Berlins), Lutheraner von Religion ... rühmen sich des Glaubens an einen einzigen Gott, und sind angesagte Feinde der Katholiken. Sie läugnen nicht das Prophetenthum Mahomed's (Mohammed), und schämen sich nicht zusagen, dass sie noch Moslim werden wollen." Eine Voraussage, die damals - wie übrigens auch heute - am realen Leben vorbei geht.
Siehe auch den Beitrag "Die Neuköllner Sehitlik-Moschee - die Minarette lautlos schön"
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