Melzow, Uckermark - Anmut, Trutz und Lebensart

So manche Worte sind heute nicht mehr das, was sie früher einmal waren. Ihre Sinne wandeln sich. Nehmen wir nur den Hinterwäldler. Das sechzehnbändige Deutsche
Dorfkirche in Melzow
Die Westseite der über 700 Jahre alten Melzower Dorfkirche
Foto © -wn-
Wörterbuch (DWB), das von Jacob Grimm und Bruder Wilhelm Grimm 1838 begonnene und von den Nachfolgern 122 Jahre später abgeschlossene Kompendium deutscher Begriffe, bezeichnet mit der heute eher diffamierenden Redefigur Hinterwäldler noch einen von Pioniergeist durchdrungenen Menschen, der sich in unwirtlicher Gegend ansiedelt, vergleichbar den so genannten Grenzern im nordamerikanischen Westen. Heute sehen wir im Hinterwäldler nicht nur einen Menschen, der den vorherrschenden Mainstream ablehnt - was durchaus kreativ sein kann -, sondern einen, der sich für ihn gar nicht interessiert und in seiner kleinen Welt genügsam lebt. Sollte es in Deutschland tatsächlich Regionen besonders hinterwäldlerischen Charakters geben - man belächelt gelegentlich Ostfriesland und das tiefe Bayern -, so gehörte im Osten auch die größtenteils im brandenburgischen Norden liegende Uckermark dazu. Die während der letzten Eiszeit zu Hügeln zusammengeschobene Endmoränenlandschaft breitet sich am Nordrand des Biosphärenreservates Schorfheide-Chorin aus. Im 200-Seelen-Flecken Melzow zwischen den Städten Angermünde, Templin und Prenzlau, der durch seine Sommerkonzerte bekannt wurde, fällt das Hinterwäldlerische wegen der geografischen Lage sofort ins Auge. Der Weiler liegt zwischen dem fünf Kilometer langen und 1,6 Kilometer breiten Oberuckersee und einem baumreichen, teils starkstämmigen Buchenbuckel, der fast ein wenig gebirgiges Fluidum verbreitet. Das Örtchen, in dem Ruhe das vorherrschende Ereignis ist, gilt mittlerweile als Sehnsuchtsziel von Geistesschaffenden, Architekten oft, die sich alter Häuser annahmen, sie stilgerecht herrichteten und nun in dieser im Einsamen verharrenden Landschaft leben. Liebhaber dieser Gemarkung mit - zugegeben - einem Mangel an aufragenden geografischen Kulminationen gab es schon früher, und sie wurden wegen ihrer Neigung nicht selten angezählt. Im 19. Jahrhundert sah sich der literarische Vorläufer Theodor Fontanes Willibald Alexis (1798-1871) dem harschen Vorwurf der Übertreibung ausgesetzt, weil er in seinen "Vaterländischen Romanen" die Mark Brandenburg einschließlich der Uckermark mit akribischer Liebe zum Detail beschreibt. Übertrieben romantisierende Darstellungen der märkischen Natur warf man ihm vor. "Durch das Preisen und Aufputzen des Dürftigen, Ärmlichen, Unzulänglichen der Mark versündigt man sich an jener (anderen) Welt, die seither für schön gegolten hat", reagierte sich einer der Rezensenten ab. Freilich, das Idyllische hält sich in Grenzen. Nicht zu bestreiten die unerhörten kriminellen Umtriebe, von denen auch die Gegend um Melzow damals betroffen war. In den von Heinrich von Kleist (1777-1811) herausgegebenen "Berliner Abendblättern" - einem Presseorgan mit "Betrachtungen über den Weltlauf", "Stadt-Gerüchten" und "Polizeilichen Tages-Mitteilungen" - wird am 3. Oktober 1810 "Etwas über den (gefassten) Delinquenten Schwarz und die Mordbrennerbande" berichtet. "Diese Bande ist in der Kur- und Uckermark verbreitet, treibt ihr schändliches Gewerbe systematisch, und bedient sich der Brandstiftung als Mittel zum Stehlen, wenn andre Wege zu schwierig und gefahrvoll scheinen. Dem Schwarz selbst war die Rolle zugeteilt, sich einige Tage vorher in dem zum Abbrennen bestimmten Hause einzuquartieren", schreibt Kleists Berliner Blatt.

Während man es heute in der Uckermark durchaus auch mit Umtrieben mancherlei Art zu tun bekommt, so scheint aber ein einst auf der Gegend lastendes politisches
Wald bei Melzow
Wald in der Uckermark
Foto © -wn-
Hinterwäldlertum rechtsstaatlichen Einsichten gewichen zu sein - zugunsten der Wertschätzung der Vorteile eines gewählten Parlamentes und einer Teilung der Gewalten. In den Monaten der Revolution von 1848 muss man von regelrechter Uckermärkischer Engstirnigkeit sprechen. Die "Neue Preußische Zeitung" berichtet im November 1848 von einer "Manifestation echten Preußenthums", bei der Anwohner des Oberuckersees "ein Paket schwarz-rot-goldener Taschentücher, die auf dem Markt feil geboten wurden, (demonstrativ) in's Feuer warfen". Man hielt nichts von einem bundesstaatlich verfassten Deutschland, dem auf Vorschlag der Frankfurter Nationalversammlung der preußische König Friedrich Wilhelm IV. (1795-1861) als Kaiser vorstehen sollte. (Majestät waren nicht interessiert.) Aus dem nur wenige Kilometer von Melzow entfernten Gramzow erging zur selben Zeit eine von aufgeschreckten Landadligen verfasste "Adresse an das Hohe (Preußische) Staats-Ministerium", in der die Auflösung der Preußischen Nationalversammlung in der "leider unter anarchischem Druck geknechteten Hauptstadt" und ihre Verlegung nach Brandenburg begrüßt wird. Dem Ministerpräsident Friedrich Wilhelm Graf von Brandenburg (1792-1850) wird nahe gelegt, "die Rechte der Krone und des Volkes nach allen Seiten hin zu schützen und … alle gefährdenden Übergriffe, selbst wenn sie aus der National-Versammlung kommen, standhaft zurückzuweisen".

Kultur in Melzow in der Uckermark


In der Literatur finden wir sowohl bissige Häme wie auch Aufmunterung speziell gegenüber den Uckermärkern und ihrer damaligen Befindlichkeit. Von einem Traum schreibt der Schriftsteller Ludwig Börne (1786-1837). Er habe in der Mailänder Scala einer Aufführung der Rossini-Oper "Othello" beigewohnt. Gelangweilt habe er sinniert:
Altaraufsatz der Dorfkirche Melzow
Neben der Orgel ist der hölzerne Altaraufsatz von 1610 das
wichtigste Ausstattungsstück der Melzower Dorfkirche. Die
Jahreszahl ist einer Inschrift am unteren Rand der
Predella zu entnehmen. - Foto © -wn-
"Ach, säßest du jetzt an einem Froschteich in der Mark Brandenburg, wie viel wohler wäre mir dort als bei dem süßen Geleier der Signora Desdemona!" Kulanter in Ton und Wirkabsicht ist Heinrich Heine (1797-1856). In der Sammlung "Lutetia. Berichte über Politik, Kunst und Volksleben" will er ausgerechnet den Uckermärkern Mut machen, sich doch dem preußisch-deutschen Umland zugehörig zu fühlen. Er schreibt, die damals hochberühmte und "schwedische Nachtigall" genannte Koloratursängerin Jenny Lind (1820-1887) gehöre "nicht exklusive dem kleinen Schweden, sondern sie repräsentiert die ganze germanische Stammesgenossenschaft, … sie ist auch eine Deutsche … mit Stolz nennen wir Jenny Lind die Unsre! Juble, Uckermark, auch du hast teil an diesem Ruhme!" Niemand hat bisher erklären können, warum Heine besonders den Menschen in Melzow und Umgebung Mut machen wollte, sich der deutschen Kultur zugehörig zu wähnen. Der Dichter würde heute frohlocken, dass am Oberuckersee geografisches Hinterwäldlertum eine Weltoffenheit nicht ausschließt. Im Örtchen passiert man, anders geht es gar nicht, die aus der Zeit des ausgehenden 13. Jahrhunderts stammende Kirche mit ihrem verbretterten Dachturm. Das Gebäude, eine geheimnisvolle Mischung aus Anmut, Trutz und Lebensart ist ein anheimelnder Saalbau aus zum Teil gequaderten Granitsteinen. 2004 wurden die mehr als 600 Pfeifen der Orgel des Orgelbauers August Ferdinand Dinse (1811-1899) originalgetreu wieder hergestellt bzw. restauriert, die Windladen, Ventile und der Spieltisch erneuert. Die 2002 begonnenen "Melzower Sommerkonzerte" erhielten damit zusätzliche akustische Opulenz. Viel gibt es im Gotteshaus auch fürs Auge. Der reich geschnitzte Renaissance-Altar stammt aus dem Jahre 1610 und verfügt über eine Predella (Altarunterbau), die drei beziehungsreiche biblische Schnitz-Reliefs auf den Betrachter wirken lässt. Die Abendmahls-Szene das eine, Jesus im Kreise der Jünger, unter ihnen der Zuträger der Hohenpriester, Judas Iskariot - sie alle das Passah-Lamm in Erinnerung an den Auszug der Israeliten aus Ägypten verspeisend. Das Mahl gipfelt in Jesus' Trinkspruch "Trinket alle daraus (aus dem Kelch); das ist mein Blut des Bundes, das vergossen wird für viele zur Vergebung der Sünden." (Matthäus 26,27-28) Diese Zusicherung einer durchgängigen Sündenvergebung führt unter Christen zur Annahme, dass dieses gegebene Wort, wenn es schon kein Anlass für ungehemmtes Sündenmachen ist, so doch die fröhlich und zuversichtlich machende Gewissheit bedeutet, dass sich der Christ nicht ins Puritanische zu flüchten braucht und der Scheinheiligkeit anheim fallen muss. Von dieser christlichen und auch in atheistische Gefühlswelten kräftig hinein scheinenden Lebenslust getragen war im Sommer 2011 eines der Sommerkonzerte. Es war das Gastspiel des Herrenwieser Vocalensembles unter Leitung des sächsischen Musikers und Musikwissenschaftlers Martin Krumbiegel (geb. 1963), Bruder des drei Jahre jüngeren Sängers in der Band Die Prinzen und Solokünstlers Sebastian. Der exzellente Kammerchor bot unter dem Motto "Meine Freundin, bist du schön" Hohelied-Vertonungen aus mehreren Jahrhunderten. Mit den vorgetragenen Liebesliedern wehte die Erkenntnis durchs Kirchenschiff, dass die Bibel zwar zuallererst ein Buch des Glaubens, dann aber auch der Lebens- und Sinnenfreude ist. Dann ein Konzert im Herbst: Die "3 Peas" - Studenten am Jazz Institut Berlin (Bass, Schlagzeug, Piano) - ließen mit unkonventionellen futuristischen Tönen erkennen, dass dem Neuem auch in der Musik zunächst immer das Flair des Einsamen und der ungewissen Zukunft vorausgeht.

Das zweite Predella-Relief stellt eine der grausamsten Szenen der Bibel dar, als der Gott des Alten Testamentes den ersten der Patriarchen Abraham im Verlaufe einer fragwürdigen Glaubensprüfung anweist, den Sohn Isaak abzustechen, was der Allmächtige im letzten Moment verhindert. Der Gläubige schließt daraus, dass sich in Gottes Umfeld trotz schlimmer Vorzeichen oft alles noch zum Guten wendet. Lebensglück suchende Nichtgläubige behelfen sich gewöhnlich mit Friedrich Hölderlins (1770-1843) ebenso beruhigender Erwartung aus dem Gedicht "Patmos" "Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch!" Das dritte Relief im Altarunterbau erinnert die Konzertbesucher im barocken Kastengestühl an die kanaanischen Hochzeit, auf der der anwesende Jesus das zur Reinigung in sechs Krügen bereitgestellte Wasser in Wein mit hohem Oechsle-Grad verwandelte. Die Party, der es an Trinkbarem gemangelt hatte, nahm wieder Fahrt auf - allerdings ohne dass die Feiernden vorgeben mussten, Wasser zu trinken, um sich in Wirklichkeit aber an Weinen gütlich zu tun - eine Praxis, die sich leider bis heute durch die Geschichte zieht. In Kanaa vollzog sich dem Bericht zufolge alles nach dem Motto des Freundes aller Uckermärker, des jüdischen Protestanten Heinrich Heine "Wir wollen hier auf Erden schon / Das Himmelreich errichten." Und so scheint es auch im Melzower Konzertleben zu sein. Denn nach den Musiken gehen Frohmut und Geselligkeit weiter; die Besucher werden in eines der restaurierten Häuser gebeten. Es gibt Schmalzstullen, Rotwein oder andere Erquickungen, die sich im nächtlichen Garten oder im ebenerdigen Gesellschaftsraum als jene Substanzen erweisen, die helfen in Gespräche mit Freunden oder fremden Gleichinteressierten einzutreten. Die Semantik des Hinterwäldler-Begriffes ist in Melzow wieder in Bewegung gekommen. Pioniergeist kehrte zurück.

Wie man nach Melzow kommt:


Mit dem Auto von Berlin aus benutzt man die Autobahn A11 bis zur Abfahrt Pfingstberg. Von dort sind es noch ca. fünf Kilometer bis Melzow.
Weitere Informationen erhält man über die Adresse
www.melzower-sommerkonzerte.de
Text: -wn-


  • Schwedt/Oder
  • Templin
  • Groß Dölln
  • Uckermark Portal

  •  
    Sehenswürdigkeiten Ausflugstipps Urlaub in der Uckermark Kreisfreie Städte Brandenburger Landkreise Urlaub in Brandenburg Feiertage & Ferien Städte und Dörfer Naturparks Sehenswürdigkeiten in Berlin Berliner Firmenverzeichnis Handwerker in Berlin Locations in Berlin Einkaufen in Berlin Urlaub in Berlin Freizeit in Berlin Berliner Bezirke Sonstiges Partnerschaft & Kontakte Wellness Wohnen Arbeit Blog Datenschutz Cookie-Einstellungen