An der Nikolaikirche:
Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Kommunismus

Text: -wn- (Journalist aus Berlin) / Letzte Aktualisierung: 19.04.2023

Gedenkbibliothek in Berlin
Die Eingangsfassade der Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Kommunismus am Berliner Nikolaikirchplatz
Foto: © wn

Man sieht es, wenn jemand Wut oder Ärger hat. Gelegentlich heißt es dann: Wenn Blicke töten könnten! Glücklicherweise kommt es bei einem "starken Blick" nie zum Äußersten. Jedoch aus religiöser Sicht kann die Sache mystisch werden. Deshalb warnte der jüdische Autor Adolf Löwinger 1926 in der volkskundlichen Zeitschrift "Menorah" unter der Überschrift "Der böse Blick" vor "Bösäugigen Personen". Seine Warnung birgt zumindest die für Nichtgläubige interessante Einsicht, wonach der "Bösäugige" entweder "auf einer hohen Stufe der Bosheit oder der Weisheit steht". Bedenkenswert ist das deshalb, weil es auch heute zahlreiche Varianten intensiver Blicke gibt. Zu ihnen zählt zum Beispiel der bekannte und einschlägig eingesetzte Intensivblick des früheren deutschen Außenministers Hans-Dietrich Genscher (geb. 1927). Jedoch gibt es auch solche Blicke, die in Dummheit, das heißt im Fehlen von Urteilskraft und Einsicht, ihre Ursache haben.

In der Friedrichsfelder Gedenkstätte, in der Sozialisten und politisch desavouierte Personen in bizarrer Liegegemeinschaft bestattet sind - in diesem eigenartigen Denkort gibt es seit Januar 2007 sogar einen "Ort des bösen Blicks". Wenn am Morgen des zweiten sonntags im Jahr führende deutsche Linke mit rotbewehrten Kränzen, Sträußen und Gebinden wahlweise mit kostensparenden Einzelnelken vor den Demonstrations-Kolonnen den Totenmalen von "Karl und Rosa" zustreben, kommen sie anschließend an dieser unbeschilderten Stelle vorbei. (Karl Liebknecht, geb. 1919, Rosa Luxemburg, geb. 1870; beide ermordet am 15. Januar 1919) Auf dem Weg zum Rondell mit den zehn Gedenkplatten muss der Zug zunächst einen sanften Halbkreis im Uhrzeigersinn beschreiten, um dann scharf nach links ins Zentrum abzubiegen. Am Rondell vollzieht sich sodann das alljährliche Ritual: Kameragerechtes Gedenken und besinnliche Blicke. Genosse Bodo Ramelow (geb. 1956), seit 2014 Ministerpräsident des Freistaates Thüringen, ist im roten Pulk sogar mit seinem angeleinten kurzbeinigen Hund dabei. Dem Tier wird eine beachtliche Laufleistung abverlangt. Es hat allerdings den besten Basisblick von allen - von unten. Besonders das Symbolgrab der Leninkritikerin Rosa Luxemburg wird im Laufe der kommenden Stunden mit Nelken zugeschichtet. Würde in dieser klaustrophobischen Lage ihr ehemals rühriger Geist ins Freie wollen, etwa um mit der Losung "Proletarier aller Länder - bereinigt euch" die "fortschrittliche" Öffentlichkeit aufzufordern, endlich die furchtbaren Ergebnisse des Staatssozialismus nicht weiter zu bemänteln oder gar zu bestreiten - Rosas Geist ist nicht mehr willig. Er bleibt, wo er ist.

Aus dem schmucklos gebliebenen Grab des Politikers Walter Ulbricht (1893-1973) nebenan könnte ebenso - wären die Zeitläufte anders - dessen Schemen aus der Tiefe aufsteigen und mahnen:
"Es muss demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand behalten." Aber auch sein Geist hat schlapp gemacht. Die unverschämte Mauerlüge seines Meisters drückt ihn wie Bodennebel nieder. Und froh kann man sein, von der hinteren Urnenwand nicht den aggressiven Ruf eines lustvollen Menschenabstrafers zu hören. Der käme von dem dort eingeurnten gewendeten Nazi-Juristen Ernst Melsheimer (1897-1960), der es zum DDR-Generalstaatsanwalt brachte. Berüchtigt und gefürchtet war er für seine häufige Forderung, die angeklagten feindlich-negativen Kräfte zu "langjährigen Umerziehungsprozessen" zu verurteilen. Mit seiner inquisitorischen Rechtsauffassung setzte er sich in den Schauprozessen u.a. gegen den Philosophen Wolfgang Harich (1923-1995) und den Verleger Walter Janka (1914-1994) durch. Beide unschuldigen Männer wurden zu zehn bzw. zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Nach der Wende verfeinden sich beide auf schmerzlichste Weise.

Mit verinnerlichten Mienen kommen sodann der Block der Empfänger auskömmlicher Parlaments-Diäten und die auf dem Fuße folgenden Demonstranten vom Rondell zurück und nehmen den Friedhofsausgang in den Blick. Jetzt, während dieses Zurückströmens, nähert man sich dem "Ort des bösen Blicks", der nur ein kurzes Stück der Wegstrecke ist. Denn die Rückkehrer haben jetzt den bekannten Stein mit der Aufschrift "Die Toten mahnen uns" im Rücken, und ihre Blicke fallen rechterhand auf einen unvergleichlich niedrigeren Gedenkstein mit der für diesen Ort ungewöhnlichen Beschriftung "Den Opfern des Stalinismus". Das vom "Förderkreis Erinnerungsstätte der deutschen Arbeiterbewegung" finanzierte und aufgestellte Kleinstmonument erweist sich seit Jahren als ein Gedenkstein des Anstoßes. Er ist etwa 50 Zentimeter breit, 35 Zentimeter hoch, 15 Zentimeter dick und ruht leicht angeschrägt auf einem kurzen Fuß. Neuerdings ist er sogar mit stählernen Stäben eingefasst. Man kann ihn als einen symbolischen "Brückenkopf" der Gedenkbibliothek zu Ehren der Opfer des Kommunismus am Berliner Nikolaikirchplatz betrachten, auch wenn der Förderverein der Bibliothek den Stein bewusst nicht in seiner Liste ausgewählter geistesverwandter Gedenkstätten führt. Verständlich, auch wenn der Stein die langjährige empörend einseitige Friedrichsfelder Gedenkkultur um ein wichtiges Element erweitert - um die historische Wahrheit. Aber will man etwa ehemaligen Häftlingen der Stasigefängnisse einen Besuch der "Gedenkstätte der Sozialisten" anempfehlen? Bestünde doch die Gefahr, dass nach den erlebten politischen Verfolgungen ein solcher Besuch einer nochmaligen Entwürdigung dieser Menschen gleichkommen könnte.

Eine in Deutschland einmalige Spezialbibliothek

Lessinghaus
Das übernächste Haus links von der Gedenkbibliothek ist das zur Einrichtung gehörende Lessinghaus. Im Vorgängerhaus an dieser Stelle beendete der Schriftsteller Gotthold Ephraim Lessing (1729-1781) im Jahre 1765 die Niederschrift seines Lustspieles "Minna von Barnhelm". Im Lessinghaus zeigt die Bibliothek die Dauerausstellung "Utopie und Terror - Alja Rachmanowa - Alexander Solschenizyn" Die Ausstellung dokumentiert anhand zahlreicher Texte, Fotos und persönlicher Zeugnisse die Lebenswege zweier bedeutender russischer Zeitzeugen: Der Schriftstellerin Galina Nikolajewna Djuragina (Pseudonym Alja Rachmanowa, 1898-1991) und des Schriftstellers Alexander Issajewitsch Solschenizyn (1918-2008).Foto: © wn

Außerdem würden diese Besucher sehen, wie sich die Blicke mancher Gedenkdemonstranten feindlich versteifen, wenn sie in der Nähe des kleinen Steins vorbeikommen.
Denn nicht wenigen ist er ein Dorn im Auge - wird als eine Blasphemie empfunden an einem für heilig gehaltenen Ort. Wenn nun auch das Bespucken des Steines während der Demonstrationen im Januar eher die Ausnahme bleibt, so kann man hier studieren, wie sich in den Gesichtern Einzelner Niedertracht und Unverstand entäußern. Hasserfüllte, Unverständnis zeigende, arrogante und von plötzlichem Ekel sprechende Blicke blitzen für Momente aus den Menschengruppen, die auf dem Weg zum Ausgang sind. Bei diesen Zeitgenossen handelt es sich offenbar um Menschen mit "besonderen psychologischen Abnormitäten, sozusagen (mit einem) schiefen Wuchs der Menschenseele unter der Einwirkung alltäglich (gewesener) gesellschaftlicher Verhältnisse", wie sie Rosa Luxemburg in ihrer Arbeit über den russischen Schriftsteller Wladimir Korolenko (1853-1921) gekennzeichnet hat. Sie hatte allerdings keine Vorstellung davon, in welch massiver Weise pervertierte staatssozialistische Verhältnisse noch viele Jahre später solche Hassblicke ohne Barmherzigkeit und Mitgefühl zur Folge haben können. Sie war sich am Beginn des 20. Jahrhunderts wohl kaum klar darüber, was es heißt, wenn eine von ihr erträumte "revolutionäre" Regierung beginnt, "sozialistische Maßnahmen in energischster, unnachgiebigster, rücksichtslosester Weise in Angriff (zu) nehmen, also Diktatur auszuüben". Zwar schränkt sie im bekannten Essay "Zur russischen Revolution" sofort ein: "aber Diktatur der KLASSE, nicht einer Partei oder Clique".

Aber gerade das geschah auf ostdeutschem Boden - eine Diktatur entstand, wie sie metaphorisch in George Orwells (1903-1950) Roman "Farm der Tiere" eindrucksvoll beschrieben ist. Was "die deutsche Sensation des zwanzigsten Jahrhunderts" hatte sein sollen, "unsere DDR" also, entpuppte sich als ein Rückfall selbst in vorbürgerliche, in feudale Strukturen. Über die Hintergründe dieser Entwicklung findet man Antworten im schnell angewachsenen Buchbestand der im Juni 1991 gegründeten Gedenkbibliothek an der Nikolaikirche. Gründerin ist die Slawistin Ursula Popiolek (geb. 1944). Ihre Idee war es nach der Wende 1989, ehemals verbotene Bücher zur Aufklärung über Ursachen und Folgen zunächst des sowjetischen Kommunismus zu sammeln. Unterstützung erhielt sie von der kurz zuvor gegründeten Bürgerbewegung Neues Forum (NF), die später zum Teil in die Partei Bündnis 90/Die Grünen aufging. Weitere Geburtshelfer waren das Kulturministerium der Nachwende-DDR und das damalige Bundesministerium für innerdeutsche Beziehungen. Bibliotheken, Stiftungen, Verlage und Privatpersonen trugen dazu bei, dass in relativ kurzer Zeit eine in Deutschland einmalige Spezialbibliothek mit Büchern über die Verbrechen des Kommunismus in den 50er Jahren und später erschienen sind. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Aufarbeitung der DDR-Geschichte sowie der Ursachen und Folgen des Stalinismus ostdeutscher Prägung. Aufmerksam werden in der Gedenkbibliothek Tendenzen registriert, die DDR-Vergangenheit nach der Maßgabe "Es war nicht alles schlecht" zu beschönigen. Der Hass, der sich in Friedrichsfelde an einem kleinen Stein abarbeitet, weil er an tragische Menschenschicksale erinnert, bestätigt die Warnung des russisch-sowjetischen Schriftstellers Daniil Alexandrowitsch Granin (geb. 1919): "Auf die Barmherzigkeit verzichten bedeutet den Menschen einer der wichtigsten Offenbarungen der Sittlichkeit berauben. Dieses uralte, notwendige Gefühl zeichnet die Gemeinschaft der Lebewesen in ihrer Gesamtheit aus: Erbarmen mit dem Bezwungenen, vom Unglück Betroffenen." Die Feindschaft gegenüber damals Andersdenkenden besteht fort. Dabei ist es offenkundig, dass der "Kommunismus, wo er die Macht ergriff, der unwilligen Wirklichkeit mit Gewalt abtrotzen (wollte), was die Klassiker als die verborgene Vernunft in ihrem Schoß beschrieben hatten. ... Er hat sein Experiment wider alle Erfahrung und gegen jeden Einspruch der Betroffenen durchexerziert." So formulierte es der inzwischen emeritierte Professor für Politikwissenschaft an der Technischen Universität Dortmund Thomas Meyer (geb. 1943) in seinem vielgelesenen Essay "Was bleibt vom Sozialismus".

Bis zu 250.000 politische Gefangene in der DDR

Wer waren die Andersdenkenden in der DDR? In der Gedenkbibliothek werden die politisch motivierten Inhaftierungen in der DDR in verschiedenster Form dokumentiert. Hauptsächliche Gründe für die meist mehrjährigen Verurteilungen waren das verhinderte "ungesetzliche Verlassen der DDR", Spionage, "öffentliche Herabwürdigung" genannte Kritik an den politischen Verhältnissen und Wehrdienstverweigerung. Die Zahl der politisch inhaftierten Personen wird auf rund 200.000 bis 250.000 geschätzt. Knapp 34.000 von ihnen wurden ab 1962 von der BRD (alt) freigekauft. Es gab die prominenten Widerständigen im politischen Range des Journalisten, Politikers und Philosophen Rudolf Bahro (1935-1997) und bis zum Jahr 1989 unentdeckt gebliebene kritische Bürger, die mit begrenzten Aktionen dennoch Aufsehen erregten. Da tauchen z.B. am Beginn des Jahres 1974 in öffentlichen Telefonzellen, in Warteräumen von Ärzten und Polikliniken, in Schalterräumen von Sparkassen und Postämtern Ausgaben des "Neue Testaments" der christlichen Bibel auf. Es werden auch andere "kirchliche Schriften" in Briefkästen von Bürgern eingeworfen, heißt es in einem internen Parteibericht, "darunter auch von Mitgliedern unserer Partei, die mit diesem Schriftgut belästigt werden". Die Behörden ermitteln hektisch - ohne Ergebnis. Im Januar 1966 ereignete sich in Dresden eine kabarettreife "Provokation". Dorthin waren von der parteieignen Berliner Druckerei Neues Deutschland Schulungshefte mit Texten des 11. Plenum des ZK der SED geliefert worden, das vom 16. bis 18. Dezember 1965 getagt hatte. Einige Empfänger dieser Broschüren staunten. Auf den ersten Umschlagseiten der weiß-roten Hefte lasen sie die Überschrift "11. Plenum des ZK der SED - Der Weg in die Verbannung", auf anderen Exemplaren war der Zusatz "Die Söhne der Großen Bärin" zu lesen oder die Hinzufügung "Der Berg schweigt". Auch hier liefen die monatelangen Ermittlungen ins Leere.

Wer sich im Berliner Kulturort Gedenkbibliothek aufhält, bekommt nicht den Eindruck, sich etwa in einer Einrichtung zur Erforschung der klassischen deutschen Literatur zu befinden. Auf den Veranstaltungen kommen Menschen zu Wort, auf die die Bezeichnung Opfer zutrifft: Viele haben in gesundheitsschädigender Haft gesessen - im Frauenzuchthaus Hoheneck (Stollberg), in Bautzen oder in Berlin-Hohnschönhausen. Wenn sie erzählen, hört es sich oft sarkastisch und scharfzüngig an - so als ob sie annähmen, man glaube ihren Berichten sonst nicht. Von diesen - in jeder Weise glaubhaften - Besuchern der Bibliothek, die den Bestrafungsorgien der DDR-Justiz Lebenszeit, Bildungsgänge und menschliche Verbindungen opferten, lässt sich sagen, was der SPIEGEL-Kolumnist Jan Fleischhauer (geb. 1962) 1993 über den ehemaligen und für Monate inhaftiert gewesenen DDR-Bürgerrechtler und heutigen CDU-Politiker Arnold Vaatz (geb. 1955) schrieb: "Die jahrelange Erniedrigung durch die SED-Bürokratie hat oft Verhärtungen hinterlassen. Opfern wie Vaatz bleibt der spielerische Umgang mit Meinung und Moral im Nachwendedeutschland gänzlich fremd." Verständlich, wenn man bedenkt, dass in Friedrichsfelde weiter aggressiv und verachtend gegafft, gestiert und manchmal gespuckt wird. Als einer der wenigen Angehörigen der DDR-Administration, die ohne Ausflucht Einsicht zeigten, sagte der frühere stellvertretende Kulturminister Dietmar Keller (geb. 1942) vor der Enquete-Kommission des Deutschen Bundestages "Aufarbeitung von Geschichte und Folgen der SED-Diktatur in Deutschland" am 17. Juni 1994 den damals als Sensation empfundenen Satz: "Es ist meine moralische Pflicht, mich bei den Opfern der SED-Diktatur zu entschuldigen."

Wie man zur Gedenkbibliothek kommt:

Die Gedenkbibliothek ist vom Alexanderplatz aus in etwa zehn Gehminuten über die Rathaus- und Spandauer Straße bequem zu erreichen. Über das Veranstaltungsprogramm der Bibliothek informiert die Internetseite gedenkbibliothek.de

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