Der Kreuzberg in Berlin
Text: -wn- (Journalist aus Berlin) / Letzte Aktualisierung: 08.05.2023

Der Kreuzberg: Der einsame Trommler im Viktoriapark
Es war als steige zwischen den Stämmen der alten Bäume am Fuß des Kreuzbergs ein Nachklang von Preußens Gloria empor. Bald zeigt es sich: Den Klang erzeugt ein Mann, der durch den nassen Wald geht, in dessen Mitte sich der Viktoriapark breitet. Umgehängt hat er eine armhohe Marschtrommel mit silbern glänzender Kesselfarbe. Der Mann trommelt im Laufen. Bergan geht er rückwärts; so schlagen die Oberschenkel nicht so sehr an das Monstrum an seiner Seite, sagt er später auf Anfrage. Mit einem Intensivblick, wie wir ihn nur von Oskarchen aus der "Blechtrommel" kennen, geht er vorüber und weiter hinein in den schneelosen Forst. Voller Hingebung versetzt er das Trommelfell seines mobilen Schlagzeugs mal kräftig und mal zärtlich in hörbare Schwingung. Überhaupt schlägt er in Abständen deutlich unterschiedene Rhythmen an. Er scheint nach fester Programmfolge zu trommeln. Soeben vernimmt man eilige, mit Wirbeln durchsetzte Schläge und - natürlich, das ist doch die Taktfolge des beherzt-eiligen Fehrbelliner Reitermarsches von 1875. Querflötist Friedrich II. (1712-1786) wäre erfreut gewesen, das, wie er sagt, "Rumplum einer preußischen Trommel" zu hören.
Doch dann meint man als passe der wiederum geänderte Rhythmus auf keinen anderen Marsch als - kein Zweifel! - auf den forschesten aller preußischen Militärmärsche, nämlich den mit den kontrapunktisch eingeblasenen freudigen Trompetenstößen. Es ist der Hohenfriedberger. (Der Name erinnert an den Sieg der Preußen über die verbündeten Österreicher und Sachsen am 4. Juni 1745 im Zweiten Schlesischen Krieg in der Schlacht nahe dem niederschlesischen Hohenfriedberg, heute das polnische Dobromierz. Der Wohlklang des Marsches ändert nichts daran, dass alle Schlesischen Kriege, die Friedrich II. zwischen 1740 und 1763 vom Zaune bricht, von großem Übel waren. Sie kosten auf beiden Seiten über einer halben Million Männern das Leben.) Nun schweigt der Tambour für Momente; man meint aber bald einen leisen Trommelschlag in mäßig bewegtem Takt zu vernehmen. Bekanntlich zieht sich ein solcher durch Georges Bizets (1838-1875) weltberühmten Bolero, in dem die Trommel und - eines nach dem anderen - dazukommende Instrumente durch das ständige Wiederholen der melodischen Formel das musikalische Meisterstück zum furiosen Ende treibt. Der Trommler scheint es selbst im Alleingang auf dieses Furioso abgesehen zu haben. Obschon längst den Blicken entschwunden, hört man noch einige Zeit seine einsamen Schläge.
Götzens Weinberg wird militärisch interessant
Wie der Schriftsteller Julius Rodenberg (1831-1914) in seinem Buch "Skizzen und Ferienreisen", 1874 bei Brockhaus in Leipzig erschienen, schreibt, wird die Anhöhe vor dem Halleschen Tor, die heute Kreuzberg heißt, zuvor nach dem Eigentümer, dem Weinmeister Götze "Götzens Weinberg" benannt. Im 18. und 19. Jahrhundert ist die sandige Erhebung vor allem ein Tummelplatz für Kinder.
Julius Rodenberg schreibt: "Kleine schwarze Figuren tummeln sich am Rande des weißen Abhanges - jetzt stürzen einige derselben hinunter - ein großes Geschrei erfüllt die Lüfte - doch nicht des Schreckens, sondern der Freude.
Denn es ist ein beliebtes Sonntagsvergnügen der Kinder, den ganzen Kreuzberg von oben nach unter hinabzurutschen." So geht das bis 1813. Dann ist Schluss mit Rutschen. In Europa beginnen die Befreiungskriege gegen das Kaiserreich Napoleons I. (1769-1821) und seine Okkupationsarmee. Die Kriege dauern bis 1815. Auf vier Feldzügen kommt es zu 49 Schlachten und einer Belagerung (Wittenberg). Und plötzlich wird der Berg südlich Berlins militärisch interessant.
In Berlin ist eine entschlossene Stimmung gegen den Kaiser der Franzosen entstanden. Viele Anwohner sehen es als eine Ehre an, an den Schanzarbeiten teilzunehmen, heißt es in einem Bericht. Da seien Professoren, Räte, angesehene Kaufleute mit eigenem Spaten und Kober (Korb mit Esswaren) zum Weinberg gezogen. Allerdings hätten die meisten von ihnen die Schwere der Arbeit unterschätzt und seien bald fortgeblieben. 1843 erscheint ein kritischer Rückblick auf den Schanzenbau. Autor ist der preußische Offizier Karl Ernst von Prittwitz (1790-1871). Es seien zu dieser Zeit auch "Soldaten zur Arbeit kommandiert (worden), man scheint aber das Versehen begangen zu haben, sie den ganzen Tag ohne Ablösung und ohne Nahrung bei der Arbeit zu lassen". Es sei zu sehen gewesen, "dass die eben begonnenen Arbeiten auf Götzens Weinberg nicht fortrückten, weil die Soldaten wenig und schlecht arbeiteten". So sei es dazu gekommen, "dass das Werk auf dem heutigen Kreuzberg schwerlich ganz fertig geworden ist". Über die halbfertigen Aufbauten mit steilen, grünen Wällen äußert sich der schwedische Oberbefehlshaber der alliierten Nordarmee Jean Baptiste Bernadotte (1763-1844) mehr als sarkastisch. Die Aufbauten, von denen aus angreifende französische Verbände durch Beschuss aufgehalten werden sollten, nennt er nach einer Besichtigung im Juli 1813 "zierlich wie eine Zuckerbäckerarbeit". Weiter heißt es, der Schwede habe "nur einen Punkt für wichtig (gehalten), nämlich die Befestigung von Götzens Weinberg, und er befahl hier den Bau eines so großen Werkes, dass es von jetzt ab mit dem Namen einer Citadelle von Berlin belegt" werden könne.
Die Schanze wird nie fertig
Zum Glück muss die Abwehrkraft der unfertig gebliebenen Sandberg-Schanzung nie getestet werden. Dass alles gut abgeht, kann man damals nur hoffen. Angriffe und Schlachten sind schwer kalkulierbar. So weiß im Juni und Juli niemand, dass am Nachmittag des 23. August 1813 bei Großbeeren im heutigen Landkreis Teltow-Fläming vordringende Napoleonische sowie sächsische Truppen und preußische, russische und schwedische Einheiten zusammentreffen. Der Ausgang dieser Bataille ist ermutigend. Die Angreifer werden zurückgeschlagen. Jetzt geht es Schlag auf Schlag. Die Völkerschlacht bei Leipzig vom 16. bis 19. Oktober 1813 leitet Napoleons Ende ein. Bis dieser am 18. Juni 1815 sein Waterloo (Belle-Alliance) erleben wird, vergehen allerdings noch einige Monate. Nach dem preußischen Sieg bei Großbeeren wird an der Schanze auf Götzens Weinberg nicht mehr gebaut. Hier kommt kein Franzose mehr vorbei, sagen die Leute. Die Verschanzung wird abgebrochen.
Aufbruchsstimmung herrscht in Europa. Am 8. Dezember 1813 gibt es in Wien ein Benefizkonzert, dessen Einnahmen in Not geratene Kämpfern gegen die Napoleonische Fremdherrschaft erhalten sollen. Uraufgeführt wird Ludwig van Beethovens (1770-1827) Siebente Sinfonie in A-Dur. Im Großen Redoutensaal der Wiener Universität verbreitet seine Musik freudiges Aufatmen, Nachdenklichkeit und Siegesräusche. Mit Jubelausbrüchen des Publikums und dem Erzwingen einer (völlig unüblichen) Wiederholung des zweiten Allegretto-Satzes geht das Konzert in die Musikgeschichte ein. In Preußen sind die Herzen ebenso siegestrunken. Politische Texthersteller haben die Hände voll zu tun mit Danksagungen an und Lebehochs auf den regierenden König Friedrich Wilhelm III. (1797-1840). Die überschwänglichen Huldigungen klingen so, als ob der zurückhaltende Monarch Napoleon persönlich in die Flucht geschlagen hätte. Eine der Elogen klingt so:
"Wer bahnte deutschen Völkern kühn, den Weg zur Siegesschlacht?
Wer ist es dessen Heldenmüh'n die Freiheit uns gebracht?
Wer, der die tapfre Preußen-Schaar zu Deutschlands Rettern schlug?
Wer leitet Preußens starken Aar, zu höherm Geisterflug?
Du, tapfres Preußen, freue dich! Dein Friedrich Wilhelm - ritterlich.
Dein König, der hohe Friedensheld!"
Am Sonnabend, dem 19. September 1818, beginnt auch auf Götzens Weinberg eine neue Zeit. Friedrich Wilhelm und der am Vortage angereiste russische Zar Alexander I. (1777-1825), ein enger Freund des Königs, legen auf dem kleinen Plateau des Weinbergs den Grundstein für ein Nationaldenkmal zum Andenken an die Soldaten der preußischen Armee, die in den Befreiungskriegen von 1813 bis 1815 fielen. Alexander ist offenbar nicht schmerzfrei. Am Tag zuvor fällt er bei einer Parade in der Friedrichstraße Ecke Taubenstraße von seinem Schimmel, weil das Tier mit den Hinterhufen auf dem glatten Straßenbelag ausrutschte und zu Boden geht. Dabei knallt der Zar mit dem Hintern heftig auf einen Bordstein. Wie der Korrespondent der "Lemberger Zeitung" berichtet, wird der in der Gesäßgegend lädierte Monarch auf dem Weinberg als erster zur Maurerkelle greifen und Kalk auf die Auflegeflächen der Grundplatte schmieren. Dann war der König dran. Sodann schlagen der Russe und der Preuße mit Hämmer auf die eingelegte Platte. Der Bericht vermerkt: "Alles Volk, die Regimenter, die zugegen waren, sangen: Nun danket alle Gott!" Das schließlich am 30. März 1821 eingeweihte, knapp 19 Meter hohe gusseiserne Denkmal ist eine Arbeit des Architekten und Malers Karl Friedrich Schinkel (1781-1841). Es hat die Form eines gotischen Tabernakels mit historischen Figuren unter kleinen schützenden Giebeln. Das Eiserne Kreuz an der Spitze gibt Götzens Weinberg seinen neuen Namen: Kreuzberg.
Der internierte Napoleon erteilt seinen Bewachern Hausverbot
Napoleon ist zu diesem Zeitpunkt bereits sechs Jahre lang Gefangener auf der britischen Insel Sankt Helena im Südatlantik. Er steht im Dauerkonflikt mit dem Insel-Gouverneur Sir Hudson Lowe (1769-1844) und seinem Wächter Sir Thomas Reade (1782-1849). Beide lassen ihn ihre Verachtung spüren. Napoleon führt Beschwerde über eine nicht standesgemäße Behandlung. Aus Protest lässt er beide nicht mehr ins Haus, das man ihm zugewiesen hat. Es ist in der Geschichte des Strafvollzuges wohl der einzige Fall, dass ein Gefangener seinen Wächtern Hausverbot erteilt. Am Tage der Denkmalsweihe auf dem Kreuzberger Hügel versucht Sir Hudson Lowe ein weiteres Mal ohne Erfolg zum kranken Gefangenen vorzudringen. Adjutant Charles Montholon (1782-1853) hat die Order, mit Ausnahme des Arztes niemand ins Haus zu lassen. Ins Tagebuch schreibt er, Hudson Lowe habe ihm gesagt: "Ich erkläre Ihnen, dass, wenn das, was Sie gewaltsame Verletzung der Wohnung des Kaisers nennen, auch seinen Tod verursachen sollte, ich die ganze Verantwortlichkeit auf mich nehme." Hudson Lowe lässt es jedoch auf eine Eskalation des Konfliktes nicht ankommen, und er geht. Der schwerkranke Napoleon überlebt den Tag der Einweihung des Denkmals in Berlin, den 30. März 1821, um 36 Tage. Wie alle geschassten Potentaten stirbt er ohne Schuldgefühl und mit Barmen. Bei Heinrich Heine (1797 od. 1799-1856) heißt es kurz und knapp:
"Wohl auf der Insel Sankt-Helena,
Sie marterten ihn gar schändlich;
Am Magenkrebse starb er da
Nach langen Leiden endlich."
Auch in seinen Reisebildern spricht er sich dagegen aus, in Napoleon nur einen Popanz zu sehen. Vielmehr habe er "nie ganz revolutionär und nie ganz konterrevolutionär (gehandelt), sondern immer im Sinne beider Ansichten, beider Prinzipien, beider Bestrebungen, die in ihm ihre Vereinigung fanden". Immerhin überlebt nach Napoleons Tod jedoch Napoleons Code zivil, ein von ihm initiiertes bedeutendes Gesetzeswerk der Neuzeit, das in wesentlichen Teilen noch heute in Frankreich gültig ist. Maximen des Codes wie Freiheit für jeden, Gewerbefreiheit und freie Berufswahl, Trennung von Staat und Kirche, Schutz des Privateigentums, enthält auch das Deutsche Grundgesetz.
Wie man zum Kreuzberg kommt:
Es ist naheliegend die U-Bahn U6 zu nutzen, die man am U-Bahnhof Mehringdamm verlässt und in den Bus 140 Richtung S+U Tempelhof einsteigt. Bis zum Ausstieg an der Station Kreuzberg/Wasserfall sind es wenige Minuten.