Jüdisches Waisenhaus in Berlin Pankow

Text: -wn- (Journalist aus Berlin) / Letzte Aktualisierung: 19.04.2023

Segmentgiebel des Jüdischen Waisenhaus Berlin
Der Segmentgiebel über dem vorspringenden Mittelrisalit - Foto © -wn-

II. Waisenhaus der Jüdischen Gemeinde Berlin / "Zeigt uns langsam eure Sonne"

Sommer 1838, früher Abend in der kaukasischen Staniza Charlach am graugrün dahinfließenden Terek-Fluss. Wenig Bewegung gibt es auf der sandigen Straße. Hühner und Hunde streunen herum. Hinter einem der geflochtenen Zäune, die die riedgedeckten Häuser einfrieden, zetert ein verärgerter Ganter. Idi, djawol! (Geh weg, du Teufel), schimpft eine Frauenstimme. Ein Mann schlendert heran, dessentwegen diese dörfliche Szenerie überhaupt erwähnt wird. Es ist der in den russischen Kaukasuskrieg (1817-1841) abkommandierte und (vermutlich) in die Staniza eingewiesene 24jährige Dichter Michail Jurjewitsch Lermontow (1814-1841). Er bummelt durch den Weiler. Bleibt hier und da stehen. Aus einem der Häuser hört er die Stimme einer singenden Frau. Ein Wiegenlied - begütigend und zärtlich - ist zu hören, mit dem die Kosakin, die er durchs offene Fenster sieht, ihr Kind in den Schlaf zu singen sucht. "Schlafe jetzt, mein kleiner Engel", sagt sie schließlich leise, steht auf und nimmt die Hand von der an der Decke hängenden Wiege. Der junge Dichter ist fasziniert von der Lieblichkeit und Bestimmtheit des Liedes. Im Überschwang der Gefühle entschließt er sich, ein ähnliches Wiegenlied zu dichten. Wir kennen es unter dem Titel "Wiegenlied der Kosaken". Es ist eines der innigsten Gedichte der russischen Lyrik des 19. Jahrhunderts.

Die erste Strophe:
"Schlafe du, o schönes Kindlein!
Bajuschki, Baju!
Stille schaut des Mondes Lichtschein
Deiner Wiege zu.
Schöne Märchen will ich sagen,
Singen dich in Ruh!
Bis die Aeuglein zu dir schlagen -
Bajuschki, Baju!"

(Bajuschki, Baju! Zu Deutsch etwa "eiapopeia" Übersetzung A. Wild, 1860, Odessa)

In Lermontows Gedicht wird dem behüteten Kind nicht nur der nächste Tag schmackhaft gemacht, sondern auch sein ferneres Leben als berittener Kosak. "Aussehen wirst du wie ein Held / und das Herz eines Kosaken haben. /... und wenn du dich zu einem gefährlichen Kampf rüstest, / denk an deine Mutter." An den Grenzen des nach Süden ausgedehnten Russischen Reiches sind die Kosaken dem Zar zu Diensten. Sie verteidigen mit ihren Säbeln die neuen Grenzen; mancher lässt dabei sein Leben. Im Todesfall, heißt es ein paar Verse weiter, werde sich die Mutter "in Trauer verzehren". Eine andere Lebenssituation, in die junge Menschen auch kommen können, bleibt ungenannt: Vater und Mutter zu verlieren, jung zu verwaisen. Im russischen Sprachgebrauch des 19. Jahrhunderts taucht das Wort Waise (Sirota) eher in ironischen Zusammenhängen auf. Man sprach von "Kasaner Waisenkindern." Der aus dem 16. Jahrhundert stammende Ausdruck entstand, nachdem Zar Iwan IV. (der Schreckliche, 1530-1584) 1556 das muslimische Khanat Kasan kaperte und dem russischen Staatsgebiet einverleibte. Nach der Besitznahme setzten sich Angehörige der Kasaner Eliten an den Zarenhof in der Hoffnung ab, dort wieder zu Einfluss und Vermögen zu kommen. Dazu gaben sie sich oft als mittellos gewordene Christen aus. Einige Jüngere behaupteten sogar, bei den Kämpfen in Kasan die Eltern verloren zu habe. Seitdem nannte man in Russland Menschen, die unter Vorwänden um Beihilfe betteln, "Kasaner Waisenkinder".

Jüdisches Sprichwort: "Das Töpfchen Schmand ist umgekippt."

Jüdisches Waisenhaus Berlin
Das frühere II. Waisenhaus der Jüdischen Gemeinde Berlin in der Berliner Straße - Foto © -wn-

Ende des 19. Jahrhunderts ist kaum noch von den "Kasanern", sondern von erschreckend vielen - tatsächlichen - jüdischen Waisenkindern die Rede. Besonders nach dem Sprengstoffattentat der linksterroristischen Organisation Narodnaja Wolja (Volkswillen) auf Zar Alexander II. (1818-1881) setzte unter dessen Nachfolger Alexander III. (1845-1894) in dem sogenannten jüdischen Ansiedlungsrayon Russlands ein antisemitischer Terror ohnegleichen ein. Die Begründung für die massive Gewalt lautete, Juden hätten Alexander II. umgebracht, und sein Nachfolger habe deshalb befohlen, mit ihnen abzurechnen. Die jüdischen Siedler wurden für die Rückständigkeit des russischen Staates verantwortlich gemacht. Man warf ihnen vor, die Arbeit in der Landwirtschaft zu verweigern, stattdessen anderen Broterwerben nachzugehen. Die Berliner "Neuesten Mittheilungen" listen am 25. Mai 1882 auf: "Von den Spiritus-Engroslagern gehören 96 %, von den Holzlagern 82 %, von den Getreidemagazinen 78 %, von den Handelsläden 71 % den Juden. Von den Schänken und Gasthäusern sind fast 77 % im Besitze von Juden." Einige von ihnen seien sogar im Eisenbahnwesen in führende Stellungen gekommen, andere als "Teekönige", "Zuckerbarone" oder Bankiers bekannt geworden. Diese Aufsteiger galten als "Speerspitze des westlichen Kapitalismus" und erweckten den Neid ärmerer Russen. Ab 1881 überstürzten sich die Ereignisse. Es begann für die jüdische Bevölkerung - wie eine Chronik schrieb - eine "Geschichte selten unterbrochener Leiden". "Es hot sich übergekehrt das Töpel Smetene", resignierten die Juden. Sollte heißen: Das Töpfchen Schmand ist umgekippt, im Sinne von: das Blatt hat sich gewendet - vom Guten zum Schlimmen. Judenpogrome. In den jüdisch besiedelten Gebieten rotten sich im Frühjahr 1881 Leute zusammen. Sie demolieren jüdische Geschäfte und Wohnungen und vergewaltigen Frauen. Hunderte Juden werden getötet, Tausende verletzt. Vom politischen Berater Alexander III., dem Juristen Konstantin Petrowitsch Pobedonoszew (1827-1907), ist der kaltschnäuzige Satz überliefert: "Ein Drittel (der russischen Juden) wird sterben, ein Drittel wird auswandern, und das letzte Drittel wird im russischen Volk völlig assimiliert werden."

Um diese Zeit macht in Berlin ein Mann von sich reden, der bei den Pogromen elternlos gewordenen jüdischen Kindern und Jugendlichen helfen will: Es ist der deutsche Jurist und ab 1870 Vorsitzende der Repräsentantenversammlung der jüdischen Gemeinde Berlin Hermann Makower (1830-1897). Er nimmt die Mahnung des Tora-Buches Schemot (Zweites Buch Mose 21,22) ernst, wo Gottvater verlangt: "Ihr sollt Witwen und Waisen nicht bedrücken. Wirst du sie bedrücken und werden sie zu mir schreien, so werde ich ihr Schreien erhören." In Hermann Makowers Amtszeit verfügt die Berliner Jüdische Gemeinde bereits über eine reiche Tradition bei der Beachtung der erwähnten Tora-Mahnung. In einem Bericht über die Berliner Gemeinde berichtet 1833 der deutsch-jüdische Pädagoge Baruch Auerbach (1793-1864) über die Ausbildung von Waisen und anderen Kindern: "Was die geistige Erziehung der Kinder betrifft; so geht unser vorzüglichstes Streben dahin, jede schlummernde geistige Anlage und Fähigkeit in unseren Schülern ... anzuregen, und zu wecken." Das Ziel sei, nicht nur "vielwissende, als vielmehr recht (auf)geweckte Schüler zu haben".

39 jüdische Waisenkinder kommen nach Berlin

Von 1881 bis 1882 leitet Hermann Makower das deutsche Hilfskomitee für russische jüdische Flüchtlinge. 1882 reist er in die galizische Stadt Brody, wo etwa 20000 russische Flüchtlinge ankamen. Er wählt 39 sechs- bis zehnjährige verwaiste Kinder aus, die ab 1882 in einem eigens zu diesem Zweck gekauften Haus in Berlin-Pankow eine Ausbildung zu Handwerkern erhalten. Die Einrichtung nennt sich "Erziehungshaus in Pankow bei Berlin". Es ist zunächst vor allem für "ostjüdische Knaben" eingerichtet. Bei einem Brand am 24. Mai 1911 wird das Haus vernichtet. Am 21. September 1913 ist der Neubau hochgezogen und nennt sich jetzt "II. Waisenhaus der jüdischen Gemeinde Berlin erbaut im Jahre 1912-1913". Zu diesem Zeitpunkt hat das Haus 55 Zöglinge. Die Jungen erhalten eine gediegene handwerkliche Ausbildung und kommen in den Genuss menschlicher Fürsorge wie sie die kosakische Mutter in Lermontows Gedicht ihrem Kind zuteil werden lässt. Die "Berliner Waisenkinder" sollen später in ihre Heimat zurückkehren. Einige von ihnen ziehen es vor, dem allgemeinen Trend zu folgen und nach Amerika auszuwandern. Jahrzehnte später wandelt sich in Deutschland die Situation drastisch. Das Haus wird 1942 endgültig geschlossen. Im Holocaust werden in den deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern 44 Zöglinge, Lehrer, Erzieher und Beschäftigte des II. Waisenhauses ermordet. Eine Frau stellt später die unermesslichen Opfer des Holocausts in den Mittelpunkt ihres Dichtens. Ein Jugendfoto zeigt die Autorin als außergewöhnliche jüdische Schönheit mit bezwingend blickenden dunklen Augen. Es ist deutsch-schwedische Schriftstellerin Nelly Sachs (1891-1970), die 1965 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und im Jahr darauf zusammen mit dem hebräischen Schriftsteller Samuel Joseph Agnon (1888-1970) den Nobelpreis für Literatur erhält. Sie hat in ihren feinfühligen Werken nicht nur das Schicksal der ermordeten Holocaust-Opfer im Auge. Sie nimmt sich auch der Schicksale der geretteten Juden an, für die die literaturbekannte (und so wenig berechtigte) Erwartung des Dichters Friedrich Hölderlin (1770-1843) zum Tragen kam: "Wo aber Gefahr ist, wächst / Das Rettende auch." (Patmos) Die 1940 nach Schweden geflüchtete Nelly Sachs macht auf die im Überlebensglück zunächst verdrängten seelischen Beschädigungen derjenigen aufmerksam, die dem Tod entkamen. In einem ihrer Gedichte heißt es:

Gräber auf dem Jüdischen Friedhof Schönhauser Allee
Die Gräber von Hermann Makower und seiner Frau Doris (1840-1888) auf dem Jüdischen Friedhof in der Schönhauser Allee - Foto © -wn-
"Wir Geretteten
Bitten euch:
Zeigt uns langsam eure Sonne.
Führt uns von Stern zu Stern im Schritt.
Laßt uns das Leben leise wieder lernen.
Es könnte sonst eines Vogels Lied,
Das Füllen eines Eimers am Brunnen
Unseren schlecht versiegelten Schmerz aufbrechen lassen
Und uns wegschäumen -
Wir bitten euch:
Zeigt uns noch nicht einen beißenden Hund -
Es könnte sein, es könnte sein
Daß wir zu Staub zerfallen -"


An all das erinnert heute das wiedererstandene II. Waisenhaus - ein historisierendes neubarockes Eckgebäude, das bürgerlichen Repräsentationsstil zur Geltung bringt. Sein Schöpfer ist der deutsche Architekt Alexander Beer (1873-1944). Ins Auge fallen das hohe Mansarddach und der kolossale, im Rundbogenstil gestaltete Segmentgiebel über dem vorspringenden Mittelrisalit. Seit dem Jahre 2002 ist dort wieder der originale Name des Gebäudes zu lesen. Doch bevor es in den heutigen hergerichteten Zustand kam, musste das Haus mehrere Wechsel der Eigentümer überstehen, die sich auch an der historischen Substanz vergriffen. So wurde die kostbare Kassettendecke im Betsaal mit Stern-, Blüten- und Früchte-Ornamenten durch das Einziehen einer Zwischendecke aus Beton schwer beschädigt. Nach der Schließung des Hauses geht es in den Besitz einer Polizeiverwaltung über. In den Jahren nach dem Krieg sind im Gebäude die polnische, später die kubanische Botschaft untergebracht. 1993 wird das inzwischen leer stehende Haus der Jewish Claims Conference (JCC) übereignet. Sie überlässt es dem Staat Israel. 1999 kauft das Immobilienunternehmen "Dr. Walter und Margarete Cajewitz-Stiftung" das abermals leer stehende Gebäude und lässt es aufwändig restaurieren. Als erste Mieterin zieht die nach dem polnischen Kinderarzt, Sozialpädagoge und Schriftsteller Janusz Korczak (1878 oder 1879-1942) benannte Zweigstelle der Stadtbibliothek Pankow ein. Seit 2007 ist auch die freie Gemeinschaftsschule "SchuleEins" untergebracht.

Die "Waisenhausgespräche" ein Ort offenen Austausches

Das ehemalige II. Waisenhaus der Jüdischen Gemeinde Berlin ist nun wieder - und vielleicht noch mehr als früher - der Ort eines breit angelegten Wissenserwerbs und Diskurses über das, was die Zivilgesellschaft heute bewegt. Zu angeregtem Gedankenaustausch kommt es während der vielbesuchten regelmäßigen Waisenhausgespräche, die seit 2007 im wunderbar rekonstruierten Betsaal stattfinden. Im April 2017 etwa vergleichen deutsche und russische Wissenschaftler die rechtsstaatlichen Systeme beider Länder. Wer erwartete, dass sich hierbei ein Lehrer-Schüler-Verhältnis abzeichnen würde, sah sich enttäuscht. Die Waisenhausgespräche haben kein solches Ziel. Sie wollen Wissen über den anderen vermitteln und für ein Verstehen unterschiedlicher historischer Entwicklungen werben. Das Haus ist ein Ort, der einem offenen Austausch und gutem Hoffen verschrieben ist. Und man spürt auch das lebendig gebliebene geistige Erbe des jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn (1729-1786) - eines deutschen Mannes, der den Mut und die geistige Weite besaß, Vordenker einer pluralistischen Gesellschaft zu sein, für die Gleichwertigkeit der Religionen einzutreten, und dem das lebenslange Lernen eine Maxime jüdischen Lebens war. Das ist der Geist des Hauses.

Verkehrsinformation:
Das "II. Waisenhaus der Jüdischen Gemeinde Berlin" befindet sich in Berlin-Pankow in der Berliner Straße 120 in der Nähe des S- und U-Bahnhofes Pankow. Man erreicht es mit der U-Bahn U2 sowie mit der Straßenbahn M1.

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