Böhmisch-Rixdorf in Neukölln

Text: -wn- (Journalist aus Berlin) / Letzte Aktualisierung: 03.08.2023

Alte Häuser in Böhmisch-Rixdorf
Eines der Häuser in der Richardstraße, von denen noch das alte dörfliche Flair ausgeht. Das gesamte Gebäudeensemble des Böhmischen Dorfes steht unter Denkmalschutz - Foto: © -wn-

Böhmisch-Rixdorf in Berlin Neukölln: In Rixdorf fehlt die Rieke

Erst das Luftbild zeigt es deutlich. Inmitten eines spitzwinkligen Dreiecks, das die Neuköllner Karl-Marx-Straße im Westen, die Sonnenalle im Osten und im Süden die S-Bahn-Strecke zwischen den Bahnhöfen Neukölln und Sonnenalle bilden, fällt eine etwa 700 Meter lange, halbrund verlaufende Straße auf. Im Raster der ringsum sich meist rechtwinklig begegnenden Straßen ist sie eine Abweichung von der Regel. Ihr Verlauf verweist darauf, dass es hier in geschichtlichen Zeiten ein Dorf gab, nämlich den Flecken Ricksdorf.

Die Geschichte von Böhmisch-Rixdorf

Im 18. Jahrhundert lag er noch eine halbe Meile (ca. 3750 Meter) von Berlin (Kottbuser Tor) entfernt. Anfang des 14. Jahrhunderts gehörte das Örtchen Tempelrittern, die aus Palästina zurückgekehrt waren. In einer uns näheren Zeit erhielt die geschwungene Gasse den Namen Böhmische Straße. Sie soll erinnern an die evangelischen Glaubensflüchtlinge, die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus Böhmen und Mähren u.a. auch in den Berliner Vorort Rixdorf kamen und dort eine Herrnhuter Brudergemeinde ins Leben riefen, eine evangelische freikirchliche Gemeinschaft. Aus dem bisherigen Ricksdorf wurde Deutsch-Rixdorf, weil unweit "18 böhmische Familien angesetzt" worden waren und diese bald darauf Böhmisch-Rixdorf gegründeten - so beschreibt ein 1806 im Berliner Gädicke Verlag erschienenes "Handbuch für Einheimische und Fremde" den Lauf der Dinge. Zu den ersten Siedlern zählen Protestanten aus den nordostböhmischen Dorfhälften Horní und Dolní Čermná bei Ústí nad Orlicí. Die Herrnhuter Christen kamen von ihrem ersten Fluchtort, an dem sie sich nach ihrer Vertreibung aus Böhmen zunächst niedergelassen hatten, aus Gerlachsheim (dem polnischen Grabiszyce) nahe dem Dreiländereck. Heute bestehen in Rixdorf drei protestantische Kirchen: die Evangelische Herrnhuter Brüdergemeinde, die Evangelisch-böhmisch-lutherische Bethlehemsgemeinde und die Evangelisch-reformierte Bethlehemsgemeinde.

Die 1786 erschienene "Beschreibung der Königlichen Residenzstädte Berlin und Potsdam, aller daselbst befindlicher Merkwürdigkeiten und der umliegenden Gegend" hält fest: "Es haben sich ... viele der Religion wegen aus Böhmen vertriebene Protestanten nach Berlin begeben. Sie haben verschiedene nützliche Manufakturen angelegt, einige sind auch wegen der guten Gartengewächse, die sie ziehen, bekannt." Die Chronik gibt ferner eine vorausschauende Antwort auf die Frage, warum das böhmisch-mährische Element heute nicht mehr direkt ins Auge sticht. "Wie bey den Franzosen (Hugenotten) halten sich viele Nachkommen der ursprünglichen Böhmen izt zu den Deutschen". Diese keineswegs behördlich erzwungene Assimilation mag der Grund mit dafür sein, dass es heute in Böhmisch-Rixdorf z.B. auch kein böhmisches Restaurant mehr gibt. Die nächste Gaststätte mit solchem gastronomischen Anspruch liegt rund zehn Fahrkilometer weiter östlich jenseits der Spree, in der Karlshorster Dönhoffstraße. Man sucht auch vergebens - aus literarischem Grund - einen Hostinec (tschechische Gastwirtschaft) ähnlich dem "Kelch" aus Jaroslaw Haseks (1883-1923) weltbekanntem Antikriegs- und Schelmenroman "Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk". In diesem fiktiven Wirtshaus wollen sich Schweyk und der ihm befreundete Sappeur Woditschka "um sechs Uhr nach dem Krieg" (gemeint ist der I. Weltkrieg) treffen. Das Fehlen des Hostinec hat also keineswegs damit zu tun, dass - wie Fontane in einem seiner Reisebriefe schreibt - mancher sich in solch einem Wirtshaus "an den Grenzen aller Kultur zu glauben" veranlaßt sei. Im Hostinec kann man gewöhnlich gut und deftig essen und trinken; daß allerdings das böhmische Nationalgericht Schweinebraten mit Knödel und Sauerkraut in einem Berliner Stadtbezirk mit einem Ausländeranteil von 22,4% (2012) nicht zu den gastronomischen Highlights zählt, muss man hinnehmen. Am Ende der zwanziger Jahre fand der "Rasende Reporter" Egon Erwin Kisch (1885-1948), der in seiner Reportagensammlung "Hetzjagd durch die Zeit" (1929) auch über Böhmisch-Rixdorf berichtet, noch ein Gasthaus vor, auf dessen Fensterscheibe weiße Porzellanbuchstaben den "Inhaber Willibald Spazier" auswiesen. Spazier war, wie Kisch recherchierte, bereits der Enkel eines Böhmen mit dem Namen Prochazka. Wegenamen wie Mala ulička (Schmale Gasse), Jan-Hus-Weg oder Herrnhuter Weg sind heute zumindest auf den ersten Blick das Einzige, worin sich das böhmisch-mährische Element in Rixdorf noch zeigt. Man hört eher türkische Sprachfetzen, als dass tschechische Worte ans Ohr dringen würden.

Der Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. nimmt Glaubenflüchtlinge aus Böhmen auf

Statue des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm I. in Böhmisch-Rixdorf
Statue des Preußenkönigs Friedrich Wilhelm I. in der Kirchgasse. Das Denkmal schuf der Bildhauer Alfred Reichel - Foto: © -wn-

Nun kommt der Mann ins Spiel, der seit 1912 am Rixdorfer Kirchgassen-Bogen direkt vor dem "Museum im Böhmischen Dorf" auf einem Sockel steht: Preußenkönig Friedrich Wilhelm I. (1688-1740). Sein Denkmal schuf der Bildhauer Alfred Reichel (1856-1928), ein Schüler von Reinhold Begas (1831-1911), dem Hauptvertreter der neobarocken Berliner Bildhauerschule, der neben anderen das Schiller-Denkmal vor dem Konzerthaus auf dem Gendarmenmarkt schuf. Die Statue des Königs, die anlässlich des 175. Jahrestages der Aufnahme von insgesamt 350 Glaubensflüchtlingen aus Böhmen aufgestellt wurde, zeigt den Monarchen mit geminderter Leibesfülle und mit einer seiner berüchtigten Impulsivität kaum entsprechenden huldvollen Geste. Auf der Rückseite des Sockels liest man "Die dankbaren Nachkommen der hier aufgenommenen Böhmen". Dem Monarchen wird für ein großzügiges Entgegenkommen, für das Zusichern von Glaubensfreiheit und für ein angstfreien Lebens in Preußen gedankt. Egon Erwin Kisch notiert: "Breitspurig, in brauner Bronze, steht Friedrich Wilhelm I., der Begründer des preußischen Militarismus, auf dem Postament." So sehr man seinen Namen mit der Passion für die in ganz Europa gegen erkleckliche Summen angeworbenen "Lange Kerls" verbindet, die ihm den Beinamen "Soldatenkönig" einträgt - so ist es ihm in seiner 27jährigen Regierungszeit nachweislich auch darum zu tun gewesen, das durch Krieg und Pest entvölkerte Preußen wieder ausreichend zu besiedeln. Gut und gerne könnte er auch als der "Immigrantenkönig" in die Geschichte eingegangen sein.

Der Ghostwriter für preußisch indentierte Denkschriften und Thronreden aller Art, der Publizist Ludwig Ernst Hahn (1820-1888) schreibt in seinem zielgruppenbewußt verfassten Buch "Geschichte des preußischen Vaterlandes. Für die reifere Jugend beiderlei Geschlechts und für das größere gebildete Publikum", Friedrich Wilhelm habe dafür gesorgt, "daß die wüst und unbebaut liegenden Aecker wieder angebaut wurden, zu welchem Zweck er den Colonisten sehr günstige Bedingungen und auf einige Jahre Freiheit von allen Steuern gewährte". Wie ernst es ihm damit war, belegen Bemerkungen aus seiner Feder am Rande einer Akte: "Wenn man auch nur zehn Familien gewinnen kann, gut; wenn man tausend und mehr Familien bekommen kann, noch besser!" An anderer Stelle vermerkt er: "Und wenn noch 30.000 kommen, ich habe Platz genug. Die Ausgaben, unter uns gesagt, sind nicht so groß; aber ich peupliere (bevölkere) mein wüstes Land." Seine Losung: "Je mehr Menschen, je lieber". Der König hatte in Rixdorf ein Gut angekauft, auf dessen Länderei sich die "neu-unterkomenden Bürger" einrichten konnten. Neun Doppelhäuser wurden für je zwei Familien und die dazugehörenden Scheunen errichtet. Die achtzehn ausgewählten Familien erhielten je zwei Pferde, zwei Kühe und Ackergerät und bildeten die Keimzelle des "Böhmischen Dorfes". Das Entgegenkommen gegenüber den Flüchtlingen hatte sich bald herumgesprochen. "Die Auswanderer wollten meist alle in des Königs von Preußen Land", heißt es in einer Chronik. Das Überwechseln in die neue Heimat war oft mit entehrenden Umständen verbunden, die an manche "einmalige Ausreise" aus der DDR erinnert, im Verlauf derer die Ausreisenden - wenn sie in aller Regel auch nicht vertrieben wurden - jedes im Gepäck mitgeführte Küchentuch zu deklarieren hatten. Die 20000 (!) Glaubensflüchtlinge aus dem Erzbistum Salzburg, einem Zentrum der Gegenreformation, mussten sich, nachdem ihnen der Grenzübertritt vom dortigen katholischen Bischof Leopold Anton von Firmian (1679-1744) erlaubt worden war, nur "mit hintantragendem Sack und Pack" und mit der Maßgabe "So fahret hin zum Teufel" auf den Weg nach Preußen machen.

Museum in Böhmisch-Rixdorf
Das Haus Kirchgasse 5, das von 1753 bis 1909 eine Schule beherbergte. Auch der erste Gebetssaal der Herrnhuter Brüdergemeine befand sich hier. Heute kann man in dem Haus ein Museum besichtigen. - Foto: © -wn-

Rixdorfer wird zum Schimpfwort

Der Alltag in Rixdorf wird gelegentlich mit drastischen Worten beschrieben. In seiner Pitaval genannten Sammlung von Kriminalfällen berichtet der Begründer des realistischen historischen Romanes in Preußen Willibald Alexis (1798-1871) vom "Gesindel der Berliner Vororte" einschließlich des "von vielen dürftigen Familien bewohnten Dorfes Rixdorf, (von) Faullenzern und Tagedieben aus dem Pöbel". Während die heute noch übliche Redewendung "alter Schwede" meist mit Augenzwinkern gebraucht wird, stand im 19. Jahrhundert hinter der Benennung "Rixdorfer" eher eine verurteilende Kritik. In der Komödie "Sozialaristokraten" des naturalistischen Schriftstellers Arno Holz (1863-1929) heißt es an einer Stelle: "Sie sin ja iberhaupt man n janz jemeener ... Rixdorfer!" Einzig Theodor Fontane (1819-1898) beschreibt im Spree-Band seiner "Wanderungen durch die Mark Brandenburg" mit warmen Worten einen Rixdorfer Pfingstsonnabend: "Die Natur lacht und die Menschen auch; die Sonne geht in Strahlen unter, die Rapsfelder blühn, und selbst die Windmühlenflügel schwenken einen grünen Maienbusch in die Luft. Rixdorf rüstete sich zum Fest. Die Mägde, kurzärmlig und aufgeschürzt, standen auf den Höfen und wuschen und scheuerten, die kupfernen Kessel blinkten."

Rixdorf in der Literatur

In der Berliner Mundart-Literatur gibt es genug Personen, die man zumindest etwas aus dem Rahmen fallend nennen könnte; eine von ihnen ist der schräge Typ Ede Petermann "aus dem 2. Garde-Regiment zu Fuß". Der stammt aus einem Rixdorfer Gassenhauer des Schriftstellers Otto Julius Bierbaum (1865-1910). Der Autor, von dem es heißt, er habe die Spruchweisheit "Humor ist wenn man trotzdem lacht" erfunden, sagte von sich, statt "sonst was ordentliches zu lernen, (habe er) sich von Jugend auf dem Laster des Versemachens und Fabulierens hingegeben". Sein Rixdorfer Original äußert sich so: "Ick heeße Ede Petermann! / In Rixdorf kennt mir jedermann / In Kulickes Destille." Und er bringt jenes taffe Mädel ins Spiel, das sich durch viele der lustig-derben Berliner Gassenhauer zieht: Rieke, eine der vielen Koseformen von Friederike. "Jott! - Rieke! Schonsten wird mir schwach. / Bloß: Keene Zicken! Sonst jibts Krach! / Denn hau ck ins Porzellane!" Begrenzt zärtlicher geht es im Text der berühmten "Rixdorfer Polka" zu, von der es eine Version des Kulturhistoriker Hans Ostwald (1873-1940) gibt. Rieke wartet in Rixdorf auf den Liebhaber Franz. Und der frohlockt, als er da ist: "Jeh mit mir in't Danzlokal, / Rieke, Rieke woll'n wa mal, / kost' n Jroschen nur / vor de janze Dour." 1969 macht der sächsische Musikwissenschaftler Hermann Lukas Richter (1923-2000) in seinem in Leipzig erschienenen Buch "Der Berliner Gassenhauer" überraschend auf die Verwandtschaft der Rixdorfer sowie anderer Berliner Polkas mit der böhmischen Polka aufmerksam. Beim Fasching 1872 sei im berühmten "Bilses Concerthaus" in der Leipziger Straße eine böhmische Polka gespielt worden, die später Textvarianten erhielt wie zum Beispiel "Komm Karlineken, wir wolln nach Pankow gehen" und auch "In Rixdorf ist Musike". Es scheint bewiesen: Die Rixdorfer Polka ist böhmischen Ursprungs. Eine ganz eigene Sicht auf die Rixdorfer Polka gibt der Heidedichter Hermann Löns (1866-1914). Zwischen 1911 und 1912 war er mehrfach in Berlin und scheint auch in Rixdorf aufgetaucht zu sein. Wahrscheinlich in einsamen Stunden auf dem jagdlichen Ansitz in der Heide entwickelte der dem Alkohol sehr zugetane "grüne" Poet die Fähigkeit, Töne nicht nur zu hören, sondern sie auch als Farb-Visionen wahrzunehmen. In seinem Buch "Kraut und Lot: Ein Buch für Jäger und Heger" kommt ihm der Ruf des Waldkauzes tief blutrot vor, der der Dommel hingegen dunkelmoosgrün und das Getriller des Brachvogels himmelblau. Aber dann schreibt er: "Und neulich beim Tanz, die freche Rixdorfer Polka, die war ganz entschieden schwefelgelb und feuerrot geringelt, und wenn das lange blonde Mädel, mit dem ich tanzte, lachte, dann sah ich etwas Rosenrotes vor mir."

Eine Person fehlt im Umfeld des "Böhmischen Dorfes": Die Rieke. Ins Vergangene folgten ihr die realen böhmischen Maryas, Milenas und Bozenas. Deren Namen liest man inzwischen auf den Grabplatten des "Böhmischen Gottesackers". Ins Licht der Öffentlichkeit treten seit längerem Frauen mit Namen wie "Heller Tag" (Akgün), "Honigtropfen" (Balca) und "Morgenwind" (Tahire). Diese Frauen trifft man jetzt auf dem Wochenmarkt jeden Mittwoch und Samstag auf dem Neuköllner Karl-Marx-Platz. Ein Frauentausch besonderer Art.

Wie kommt man nach Böhmisch-Rixdorf?
Von der Berliner Stadtmitte aus bietet sich die U-Bahn U8 bis zum Bahnhof Hermannplatz an. Dort benutzt man die U7 Richtung Rudow und fährt bis zum S- und U-Bahnhof Neukölln. Von da sind es rund 400 Meter bis zum Karl-Marx-Platz und wenige weitere Schritte ins Böhmische Dorf (Richardplatz).

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