Carl Legien Wohnstadt in Berlin Prenzlauer Berg

Text: -wn- (Journalist aus Berlin) / Letzte Aktualisierung: 03.08.2023

Wohnstadt Carl Legien im Prenzlauer Berg
Ein Gebäudekomplex der Wohnstadt Carl Legien im Prenzlauer Berg - Foto: © wn

Die Wohnstadt Carl Legien / Abschied vom dunklen Hinterhof

Wer wann wo und wie wohnen wird - das bestimmen Geldbeutel, Gelegenheit und Glück. Wer eine "bessere Wohnung" als die bisherige sucht, ist bei aller gegenwärtigen Knappheit in den Berliner Quartieren immer noch weitaus besser dran als die um 2015 ins Land geströmten Flüchtlinge, die den Eindruck erwecken, als kämen Völker und Zeiten unaufhaltsam in Bewegung. Müssen doch die Ankommenden anfangs mit Hallen, Containern oder Zelten vorlieb nehmen.
Dennoch ist sicher, dass letztendlich niemand eine Wohnung beziehen muss, die das Bedenken weckt, man könne mit ihr einen Menschen töten. Den plakativen Zusammenhang von Wohnen und Sterben stellte einst der als Pinselheinrich bekannte Maler und Fotograf Heinrich Zille (1858-1929) her. Er meint: "Man kann einen Menschen nicht nur mit der Axt, sondern auch ... mit einer Wohnung umbringen." "Zille sein Milljöh" tut sich auf, jene bitteren Zustände, die er eindrucksvoll - gelegentlich mit romantischen Anflügen - skizziert. Was sieht man auf den Bildern des Mannes, der seinen Tagesablauf so schildert:
"Am Tage: Arbeit, ernster Wille,
Abends: einen Schluck in der Destille.
Dazu ein bisken Kille-kille,
Das hält munter -
Heinrich Zille"?


Auf einer Zeichnung im 1929 publizierten Zille-Buch des Journalisten Hans Otto August Ostwald (1873-1940) steht die etwa zweijährige Schwester vor dem Hochstuhl, in dem das Brüderchen sitzt; beide untenrum nackend. Mit dem Saum ihres kurzen Hemdes wischt die Schwester dem Kleinen die Nase. Von einem weiblichen Rückenakt heißt es, die Radierung zeige eine voluminöse Dame "abseits aller akademischen Süßigkeit". Stimmt. Oder auf der Straße rufen drei Gören aus kindlicher Prahllust: "Aetsch - Unser Vater is ooch in Tegel." (im Gefängnis)

Wie Zille schildert, ist die Wohnsituation im Berlin des 19. und am Beginn des 20. Jahrhunderts katastrophal. Die Stuben meist dunkel und eng, ihre Bewohner aggressiv. Im 1831 im Berliner Verlag W. Natorff & Comp. anonym publizierten Buch "Berlin wie es ist. - Ein Gemälde des Lebens dieser Residenzstadt..." heißt es: "Wenn man bedenkt, dass die sogenannten Familienhäuser vor dem Hamburger-Thore mehreren tausend Menschen, mit Einschluss der Frauen und Kinder, Obdach geben, so kann man sich über die häufige ... Wiederholung solcher Scenen (eskalierende Mieterkonflikte) nicht wundern". Zuweilen wohnen um diese Zeit mehrere Familien in einer Stube. Der Stadtplaner Werner Hegemann (1881-1936) bringt die Wohnsituation in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg (1914-1918) in seinem Buch von 1930 "Das steinerne Berlin" auf den Punkt: "Vorläufig heißt eine der umfassendsten und vielleicht erstaunlichsten Leistung des deutschen Geistes: Berlin, die größte Mietskaserne der Welt." Zwischen 1919 und 1933 werden in der Stadt rund 230000 Wohnungen gebaut; die Hälfte mit öffentlichen Geldern. Wie es in solchen Häusern rein akustisch zugeht, erörtert Peter Panter (Kurt Tucholsky) im Sommer 1930 in der Monats-Zeitschrift UHU. Wegen des Lärms im Haus bliebe nichts weiter übrig, als mit den Hausgenossen aufzustehen und mit ihnen zu Bett zu gehen. "Du lebst ein fremdes Leben mit. Stille, das kostbarste Gut, ist dir versagt. ...'Huhu - huhu - haha - huhu - hiiiii -' Was ist das? Eine Lokomotive im Tunnel? Ach nein. Das ist Fräulein Lieschen Hasensprung, die sich im Gesang übt. Sie gleitet die Skalen gar oftmals hinauf und hinab; sie schleift die Töne im Hals, bis der Hals rau und die Töne glatt sind, und wenn sie nicht singt, dann spielt sie Klavier. ... Und das geht den ganzen Tag - stundenlang".

Preußenkönig Friedrich II. lässt Wohnungen bauen

Als Begründer der tristen Berliner Mietskaserne gilt Preußenkönig Friedrich II. (1712-1786). Der Philosoph von Sanssouci mischt auch im Berliner Wohnungswesen mit. Nach dem Ende des verheerenden Siebenjährigen Krieges (1756-1763) geht er daran, in der Stadt zahlreiche Wohnhäuer auf eigene Kosten errichten zu lassen. Sein Ziel ist es, der Stadt, in der das Bauwesen darnieder liegt, ein kompakteres Aussehen zu geben. Von 1769 bis etwa 1782 entstehen auf sein Geheiß und mit seinem Geld beinahe 300 drei- und vierstöckige Häuser. Selbst auf dem Grund und Boden, der ihm nicht gehört, tritt er als unumschränkter Bauherr auf, bestimmt, was für ihn wichtig ist, den Fassadenstil, der oft in keinem Verhältnis zum Inneren der Gebäude steht. Ein Witz geht um. Frage des Poliers: "Der Rohbau steht, wat soll denn nu fürn Stil dran?" "Außen hui innen pfui!" Werner Hegemann hält fest: "Die Mietskasernen, die Friedrich der 'Große' ... baute, waren kein Segen, sondern eine der fluchwürdigsten Formen des großstädtischen Massenpferchs." 1782 zeigt sich der Erste Diener des Staates resigniert angesichts der Proteste zahlreicher Bewohner seiner Mietskasernen gegen Enge und Dunkelheit. Wutentbrannt diktiert er dem Kabinettsekretär: "Da die unruhigen querulierenden Einwohner von Berlin meine Gnade zu sehr missbrauchen, und sie (mich) sogar mit Undank belohnen, und (mich) mit Verdruss verbittern; so habe Ich beschlossen, für sie nicht mehr bauen zu lassen und dieser Entschluss soll ihnen bekannt gemacht werden." Und der Bedarf an Wohnung nimmt weiter zu. Noch in Friedrichs Lebenszeit steigt die Einwohnerzahl Berlins stark an. Liegt sie zwischen 1780 und 1790 unter 200000 Menschen, schnellt sie besonders ab 1860 von inzwischen 500000 auf 1100000 Bewohnern hoch. Nach der Gründung des Kaiserreichs 1871, als Deutschland zur Weltmacht und Berlin zur Weltstadt aufsteigen, wohnt ein Fünftel der Einwohnerschaft in überbelegten Kleinwohnungen. Die Unterkünfte mit ihren sonnenarmen Höfen bestehen aus Zimmer und Küche und sind laut einer Statistik mit bis zu sieben Menschen belegt. Lesen Sie auch: Berlin in der Kaiserzeit

Revolutionär im sozialen Wohnungsbau: Der Architekt Bruno Taut

In dieser Bedrängnis sinnt ein Mann auf Abhilfe. Der Architekt und Stadtplaner Bruno Taut (1880-1938), ein Mittvierziger, will der Mietskaserne eine keineswegs teurere Alternative entgegenzusetzen. Die von ihm entworfenen Häuser sollen nicht komfortabler, sondern zweckmäßiger und der Gesundheit der Bewohner dienlicher sein. Bruno Tauts Schaffen wird später dem "Neuen Bauen" und der "Neuen Sachlichkeit" zugerechnet. In seinen "Thesen zur Baukunst" kritisiert er die Praxis im bisherigen Wohnungsbau, die Proletarierwohnungen lediglich als stark verkleinerte Bürgerwohnungen auszuführen. "Formwerdung des Zwecks oder der Bestimmung ist ... der erste Schritt zur Sinnfälligkeit neuer Baukunst ... An Stelle der Schönheit des Hauses tritt nunmehr die Schönheit der Vorgänge im und am Haus." Seine Philosophie: Alles muss praktisch gebaut sein, ohne dass man übliche Wohnungsmaße überschreitet. Es sollen Wohnungen entstehen mit Grundrissen, die nicht nur abstrakte Konstruktionsprinzipien einhalten, sondern den Bedürfnissen der Bewohner so angepasst sind, dass auch eine individuelle Raumnutzung möglich ist. Vor allem: Die Wohnungen orientieren sich mit ihren Fensterfronten weg von der Straße, hin zu den Gartenhöfen - eine "beseelte Baukunst" soll zum Tragen kommen. Aber Bruno Taut stößt in der Berliner Administration oft auf Desinteresse. In seinem Aufsatz "Wert und Wirkung" von 1922 geht er darauf ein: "Notwendig ist, dass man sich über die Erscheinungsweise des Wertvollen (des Neuen) keine Illusion macht. Diese liegt daran, dass man glaubt, die wertvolle Leistung müsse sofort alle überzeugen und anerkannt werden, während fast durchgängig das Gegenteil der Fall ist." Die allgemeine Korruption verzögert zugesagte Zuschüsse und Genehmigungen. Einem Berliner Stadtrat weist man 1930 eine Grundstücksschiebung erheblichen Ausmaßes nach. Da steigt das satirische Wochenblatt Kladderadatsch ein und reimt unter der Überschrift "Der Berliner Stadtrat als Grundstücksschieber":

Umlaufende Balkons in der Wohnstadt Carl Legien
Umlaufende Balkons an vorderen Gebäudeteilen der Wohnstadt Carl Legien - Foto: © wn
Der Geschäfte ernste Übung
wird den Stadtrat sehr erfreuen
Doch hingegen - 'Grundstücksschiebung'
Bringt ihm massig 'Asche' ein ...


Bruno Taut gibt nicht auf. Im Beitrag "Arbeiterwohnhaus" schreibt er: "Die täglichen Vorgänge im Haus sind dort so gegliedert, dass sie klar getrennt und doch in notwendigen Zusammenhang gebracht werden." Die Wohnräume z.B. seien "als Ganzes zu benutzen sowie in drei Teile für Essen, Arbeiten und Wohnen zu gliedern". Es gelingt ihm, trotz Geldknappheit praktische Beispiele für seine andere - noch heute sichtbare - Philosophie zu schaffen. Seine Vorstellung von einem sozialen Wohnungsbau läuft nicht auf eine "verkümmerte Nachäffung des bürgerlichen Wohnungsgrundrisses" hinaus, wie eine Fachzeitschrift irrtümlich behauptete. Wir Heutigen können Bruno Tauts Leistung in Berlin mit eigenen Augen sehen. In einem 150 Meter langen Abschnitt der Erich-Weinert-Straße im Prenzlauer Berg zwischen der sie querenden Sült- und Gubitzstraße fallen hell getönte Flachdachbauten auf, in denen es 1145 Eineinhalb- bis Dreieinhalb-Zimmer-Wohnungen gibt. Die Gebäude gehen auf Entwürfe zurück, die Bruno Taut und der Stadtplaner und Architekt Franz Hillinger (1895-1973) 1925 im Auftrag der Gemeinnützige Heimstätten-Spar- und Baugesellschaft (GEHAG) erstellen. Sie sind eine steingewordene Absage an den Berliner Hinterhof. Die Gebäude bilden U-Formen mit grünen Innenhöfen, die zur Erich-Weinert-Straße hin offen sind. Zu den Höfen hin haben die Gebäude Loggien sowie begehbare Auskragungen in den Geschossen (Balkone). An jeweils den beiden um ein Stockwerk höheren äußeren Gebäudeteilen laufen die Loggien mit runden Handläufen als Blickfänge um die Hausecken herum. Mieterfluktuation gibt es in der Wohnstadt nicht, wer auszieht, hat meist schon einen Nachmieter an der Hand.

Möglicherweise hätte der Philosoph Friedrich Engels (1820-1895) Bruno Tauts revolutionäres Beispiel in einer bürgerlichen Gesellschaft für unmöglich gehalten. In seinem Beitrag "Zur Wohnungsfrage" schreibt er 1872: "Um dieser Wohnungsnot ein Ende zu machen, gibt es nur ein Mittel, die Ausbeutung und Unterdrückung der arbeitenden Klasse durch die herrschende Klasse überhaupt zu beseitigen." In der DDR schien dieser Zustand eingetreten zu sein, wenn auch in der Form einer staatssozialistischen Funktionärs-Bürokratie, in der die ehemals herrschende Klasse durch eine andere herrschende Schicht ersetzt wurde. Bruno Taut war in der DDR keine Unperson. Im Februar 1980 wurde er aus Anlass seines 100. Geburtstages sogar mit einer Ausstellung geehrt. Das "Neue Deutschland" lobte: "In den zwanziger Jahren waren es Architekten wie Bruno Taut, die mit der Wohnsiedlung in der Erich-Weinert-Straße eine "grüne Schneise" in die verrußte Gegend schlagen wollten. Ein für damalige Verhältnisse bemerkenswertes Wohnensemble, dass unser Staat unter Schutz stellte." Sehr erfreulich diese Bewertung, jedoch der übrigen bröckelnden Ostberliner Altbausubstanz blieb ein solcher Schutz verwehrt.

Die DDR ehrt Bruno Taut und lässt Altbauten verkommen

In der DDR läuft ab dem Jahr 1971 ein ambitioniertes Wohnungsbauprogramm. Bruno Tauts Vorstellungen kommen dabei insoweit zum Tragen, als das Bauvorhaben das Wohnungsproblem als soziale Frage lösen soll. Ideologisch ist es untersetzt mit einer alten Forderung der deutschen Arbeiterbewegung, "sicher, trocken und warm" wohnen zu können. Mit 200 investierten Milliarden Mark der DDR wird dieser Zustand weitgehend herbeigeführt. Die Neubausiedlungen sollen auch eine "Gestaltung (besitzen), die durch emotionale Wirkung bei den Bürgern ... Lebensfreude, Schönheitsempfinden, gesellschaftliche Aktivität und Leistungsbereitschaft fördert" und die "Verbundenheit zur sozialistischen Heimat vertiefen hilft", erklärt man auf einem Baukongress. Es gibt allerdings Salz in der Suppe. Ein Film gelangt am Beginn der 1980er Jahre in die Kinos. Zwar wird er nicht verboten, aber doch bald als bürgerlich infiziert bezeichnet. Der Streifen heißt "Insel der Schwäne" und schildert die Schwierigkeiten, die der 14-jährige Stefan Kolbe hat, sich in der neuen Plattenbau-Umwelt aus Beton zurechtzufinden. Nach anfänglicher Zurückhaltung meldet sich die Zensur. Das "Neuen Deutschland" räsoniert: "Der jugendliche Held reagiert (im Film) so, wie es die Dramaturgie von Dutzend-Western vorschreibt. ... Da sich nicht übersehen lässt, dass dieser Film in einem Neubaugebiet unserer Hauptstadt angesiedelt ist, stellt sich die Frage, was mit dem Strickmuster bürgerlichen Kinos an sozialistischer Wirklichkeit erhellt werden sollte." Einem ähnlichen Vorwurf in Sachen Wohnungspolitik, diesmal den der "politischen Prinzipienlosigkeit", waren auch die "Drei Dialektiker" in der Sendung "Ein Kessel Buntes" ausgesetzt. Die Kabarettisten Horst Köbbert (1928-2014), Manfred Uhlig (geb.1927) und Lutz Stückrath (geb. 1927) hatten etwas gewagt, worüber sich bereits Friedrich II. in seiner Schrift "Über die Satirenschreiber" wortreich empörte: "Was ist leichter, als die Großen zu lästern? Man braucht nur ihre Fehler zu vergröbern, ihre Schwächen zu übertreiben (und) die üble Nachrede ihrer Feinde breitzutreten". Der Fehltritt der drei: Sie kritisieren die zum Teil schlechte Qualität der neuen Wohnsiedlungen. Und so geht der Sketch im "Kessel Buntes": Köbbert sieht durchs Fernglas auf einer Baustelle einen ihm bekannten Brigadier "von der Brigade Flotte Kelle". Der Mann sehe überglücklich aus, sagt Köbbert. Er kennt auch den Grund: Es ist dem Brigadier gelungen, eine Wohnungseinheit in zwei Tagen zu montieren. "Gucke mal an!" staunt Uhlig. Stückrath guckt auch und sieht daneben einen traurigen Mann stehen. Den kennt Köbbert auch: Das sei der Mann, der da einziehen muss. Heiterkeit im Saal. So spotteten sie im Jahre 1972. Sechs Jahre später hatte es sich bei ihnen ausgespottet.

Wie man zur Wohnstadt Carl Legien kommt:

Die nach dem ersten Vorsitzenden des 1919 gegründeten Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes (ADGB) Carl Legien (1861-1920) benannte Wohnstadt ist von der Greifswalder Straße auf der Erich-Weinert-Straße zu Fuß zu erreichen (500 Meter).
In dem Beitrag "Die Tuschkastensiedlung in Altglienicke: Rigoros freundlich" wird ein weiteres Berliner Bauprojekt Bruno Tauts beschrieben.